Die Erde erscheint riesig, im unendlichen Meer des Universums ist sie ein winziges Schiffchen, auf dem wir gemeinsam leben. Eine ’problemorientierte Philosophie’ ist mit dem „Bau eines Schiffes auf offenem Meer“ vergleichbar. Heute sind durchaus Hunderte Millionen Menschen an der "wahrhaften Auflösung des Widerstreites" interessiert, engagiert und konstruktiv an unserem Schiff tätig - aber: Milliarden entfernen (teils bewusst, teils unbewusst) unten im Rumpf Planken, um sie an Deck zu verhökern.

4. Die Aporie einer Verwirklichung der Philosophie in der Eindimensionalität.

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Im Brennpunkt von Herbert Marcuses Buch aus dem Jahre 1964:
'The One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of the Advanced Industrial Society' (72) stehen „Tendenzen in den höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften. Es gibt weite Bereiche innerhalb und außerhalb dieser Gesellschaften, wo die beschriebenen Tendenzen nicht herrschen - ich würde sagen: noch nicht herrschen.“ (73)

Heute, mehr als 50 Jahre später, haben sich diese Tendenzen potenziert. Deshalb ist Marcuses Buch heute weiterhin aktuell. In der Perspektive der westlichen neomarxistischen ’Kritischen Theorie der Gesellschaft’ zielt Marcuse - alternativ zu der vorherrschenden deskriptiven Soziologie, welche sich auf Oberflächenbeschreibungen beschränkt - auf eine zweidimensional-dialektische Kritik, darauf, die vielfältigen Gründe hinter den Erscheinungen aufzuklären: ‚hinter die Tatsachen zu gehen’.

Es ist anzunehmen, dass Marcuses ’Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft’ deshalb eine so immense politische, sozialwissenschaftliche und individualgeschichtliche Wirkung hatten, weil sie in einer umfassenden perspektivischen Breite angelegt waren, indem sie versuchten, zugleich geschichtlich und systematisch, diachronisch und synchronisch, selbstkritisch und kritisch die aktuelle gesellschaftliche Situation zu analysieren: dialektisch-begrifflich innerhalb einer Interdisziplinarität aus Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Geschichte und Politik.

72
.) Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, DTV, München 1994
73.) Ebd. S. 20

Marcuses Buch enthält neben dem Rückgriff auf Hegel, Marx, Freud, Sartre und auf zahlreiche Momente der Philosophie- und Dialektikgeschichte auch viele Paraphrasierungen Heideggerischer Figuren. Doch sind diese wohl eher in essentiellen Strukturmustern der betrachteten Sache, der hochentwickelten gegenwärtigen Gesellschaft, begründet, als in perspektivischen oder methodologischen Übereinstimmungen.
Am Ende der zwanziger Jahre versuchte Marcuse noch, den ’Historischen Materialismus’ ’existentialontologisch’ zu fundieren.

Peter Furth sah in diesem Versuch "einen Spagat zwischen Marx und Heidegger, der zwangsläufig misslingen mußte" (74).

74.) Peter Furth, Vorlesung: Die Anfänge der Kritischen Theorie


Wieso? Ein Spagat kann auch gelingen. Es müsste ernsthaft darüber diskutiert werden, ob Marcuses damaliger Syntheseversuch nicht zahlreiche fruchtbare Fragestellungen aufwirft, die für eine dialektisch-kritische Perspektive zumindest diskussionswürdig und potentiell auch heute noch konstruktiv und inspirativ sein könnten.


Die strukturellen Muster einer betrachteten Wirklichkeit führen nicht selten zu parallelen Bahnen in methodisch und kontextuell völlig differierenden Ansätzen. Die unübersehbaren Affinitäten zwischen ’kritisch-theoretischen’ Motiven z.B. in Adorno-Horkheimers ’Dialektik der Aufklärung’ einerseits und ’seinsmetaphysischen’ Motiven in Heideggers ’Fragen nach der Technik’ andererseits ergeben sich aus dem gemeinsamen Brennpunkt: aus geschichtlichen ‚Tendenzen in den hochentwickelten Gesellschaften’.

Derartige Affinitäten vorschnell auszublenden, implizierte einen unkritischen Blickverzicht gerade auf diejenigen essentiellen Strukturmerkmale, deren Wirkpotentiale so gross sind, um unter völlig gegensätzlichen und unterschiedlichen Blickwinkeln trotzdem parallele Interpretationen herauszufordern.

Hier, 35 Jahre später, im ’Eindimensionalen Menschen’ sind nur noch wenige direkte Hinweise auf Heidegger enthalten. Die folgende Skizze einiger Grundfiguren des Heideggerischen Denkens und im Anschluss die zusammenfassende Darstellung einiger Hauptmotive aus Marcuses Konzeption der ’Eindimensionalität’ soll anfangs kurz die Frage illustrieren, wie und wieweit (bei allen politischen und methodischen Differenzen) sich bei Heidegger bereits Präfigurationen von Marcuses Gesellschaftskritik finden lassen. Marcuses Studie zum ’eindimensionalen Menschen’ zitiert Heidegger direkt nur noch an einer einzigen Stelle:

„Der neuzeitliche Mensch stellt sich ... als den heraus, der ... als der sich durchsetzende Hersteller aufsteht ... . Das Ganze des gegenständlichen Bestandes ist dem sich durchsetzenden Herstellen anheimgestellt, anbefohlen ... und wird im vorhinein ... zum Material“. (75)

In Heideggers Perspektive ist die moderne Technik die Konsequenz eines ’Seinsgeschicks’, in dem sich das ’Sein’ dem Menschen ’zuspricht’, ohne dass er darüber verfügen könnte. In der Seinsepoche der ’vollendeten Metaphysik’ erscheint alles Seiende in der Weise des ’Ge-stells’. Das ’Ge-stell’ meint keinen Gesamtapparat, nichts Technisches, sondern das ’Wesen der modernen Technik’, eine ’Weise des Entbergens’, eine ’Seinsauffassung’ oder ’Wirklichkeitsauffassung’:

„das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen.“ (76)



Die Natur und der Mensch werden als ’Bestand’ ’herausgefordert’, ’gestellt’, und zur ’Verwendung’ für das Wirken und Planen der Technik ’bestellt’. Darin liegt die ’Gefahr’, dass der Mensch alles Seiende und sich selbst nur noch als ’Bestand’, als ’Material’ für die erfolgsorientierte ’Herstellung’ und ’Verwertung’ von allem ’zustellt’ und alle anderen Weisen der ’Wahrheit’ und alle ’Nähe des Seins’ ’verstellt’.

75.) Herbert Marcuse, Der eindim. Mensch, S. 168 hier zitiert aus: Martin Heidegger, Holzwege, Frankf. 1950, S. 266
76.) M. Heidegger, Die Frag. nach d. Technik in: Vorträge und Aufsätze, Neske 1954, S. 24

„Daß sich seit Platon das Wirkliche im Lichte von Ideen zeigt, hat nicht Platon gemacht. Der Denker hat nur dem entsprochen, was sich ihm zusprach. Nur insofern der Mensch seinerseits schon herausgefordert ist, die Naturenergien herauszufördern, kann dieses bestellende Entbergen geschehen. ... Der Forst- wart ... ist heute von der Holzverwertungsindustrie bestellt, ob er es weiß oder nicht. Er ist in die Bestellbarkeit von Zellulose bestellt, die ihrerseits durch den Bedarf an Papier herausgefordert ist, das den Zeitungen und illustrierten Magazinen zugestellt wird. Diese aber stellen die öffentliche Meinung daraufhin, das Gedruckte zu verschlingen, um für eine bestellte Meinungsherrichtung bestellbar zu werden.“ (77)

Heidegger sieht die Krise des zwanzigsten Jahrhunderts als die letzte metaphysische Konsequenz aus der langen Geschichte der ’Seinsvergessenheit’. Nach Heidegger verharrt Nietzsches ’Umkehrung des Platonismus’, in der das Sinnliche zur wahren Welt und das Übersinnliche zur unwahren Welt wird, innerhalb der Metaphysik.

„Diese Art der Überwindung der Metaphysik, die Nietzsche im Auge hat und dies im Sinne des Positivismus des 19. Jahrhunderts, ist, wenngleich in einer höheren Verwandlung, nur die endgültige Verstrickung in die Metaphysik. Zwar hat es den Anschein, als sei das "Meta", die Transzendenz ins Übersinnliche, zugunsten des Beharrens im Elementaren der Sinnlichkeit beseitigt, während doch nur die Seinsvergessenheit vollendet und das Übersinnliche als der Wille zur Macht losgelassen und betrieben wird.“ (78)

77.) Ebd. S. 21/22
78.) Martin Heidegger, Überwindung der Metaphysik in: Vorträge und Aufsätze, S. 75

Heidegger sieht den ’Willen zur Macht’ als extremste Ausprägung des Subjektivismus: als Vollendung einer Tendenz, die seit den Anfängen der Metaphysikgeschichte vorhanden war. Nietzsches Metaphysik bildet dementsprechend die vorletzte Stufe; die letzte Stufe wird erst im 20. Jahrhundert erreicht, in dem der ’Wille zur Macht’ aus dem rauschhaften Dunstkreis der „Verwirrung eines trüben Lebensgewühls“ entlassen und mit der ’unbedingten Herrschaft der rechnenden Vernunft’ verbunden wird. Im technologischen Universum des ’Willens zur Macht’ vollendet sich die Geschichte der Metaphysik. Es ’ereignet’ sich der Untergang der Wahrheit des Seienden und im Anschluss: der Untergang des Seienden selbst: die ’Verwüstung der Erde’.





„Der Untergang der Wahrheit des Seienden ereignet sich notwendig und zwar als die Vollendung der Metaphysik. Der Untergang vollzieht sich zumal durch den Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt und durch die aus der Metaphysik stammende Verwüstung der Erde. Einsturz und Verwüstung finden den gemäßen Vollzug darin, daß der Mensch der Metaphysik, das animal rationale, zum arbeitenden Tier fest-gestellt wird. Diese Fest-stellung bestätigt die äußerste Verblendung über die Seinsvergessenheit. ... Das arbeitende Tier ist dem Taumel seiner Gemächte überlassen, damit es sich selbst zerreiße und in das nichtige Nichts vernichte.“ (79)




Heideggers ’Denken’ kann im Hinblick auf wesentliche geschichtliche und gesell-chaftiche Grundmuster oder auf kritische Reflexionen über die Genealogie der ’Seinsprinzipien’ lehrreich und inspirativ sein. Aber vieles bleibt untragbar: sein Denken ist ursprungsphilosophisch. Der permanente Schritt zurück zu den Wurzeln, Anfängen, Ursprüngen, Grundquellen und Quellgründen impliziert eine verabsolutierte Konzentration auf begriffliche und geschichtliche Anfangs- und Grundzusammenhänge und damit: ein tendenzielles Absehen von der realen geschichtlichen Kontingenz.

Dagegen insistiert Marcuse auf die politische und geschichtlich-gesellschaftliche Bedingtheit der aktuellen Krise. Seine ’negativ-dialektische’ Methode versucht, den ’Rückgang in den Grund’ mit einem ’Vorwärtsgehen’ (80) zu vereinen. Er konzentriert sich weniger auf die einen Anfänge, Ursprünge und Fernursachen, mehr auf die hinter den Tatsachen liegenden vielen Prozesse, Gründe und Nahursachen.


79.) Ebd. S. 68/69
80.) Vgl.: Michael Theunissen, Dialektik der Endlichkeit in: Dialektik und Differenz, Festschrift für Milan Prucha, Hrsg.: Annett Jubara und David Benseler, Harrassowitz Verl., Wiesb. 2001, S. 35 ff u. S. 65.
Vgl.: Hegel, Wissensch. d. Logik. Ges. W., Bd. 11, S. 35


Während Heidegger mit dem ’Seinsgeschick’, einem ’Sein’, das sich dem Menschen ’zuschickt’, eine fast schicksalhafte Ohnmacht des Menschen gegenüber seiner Geschichte diagnostiziert, betont Marcuse das Element von Freiheit und Verantwortung in der geschichtlichen Determination.

Der von Marcuse in affirmativer Anlehnung an Jean-Paul Sartre gewählte Terminus: ’Entwurf’ soll Autonomie und Kontingenz verknüpfen. Die Geschichte ist und bleibt offen und veränderbar.
Zwar führt die Totalität des eindimensionalen Universums zu einer progressiven ’Paralyse der Kritik’ - aber nie kann die bedrohte oder unterdrückte Existenz auf ewig zum völligen Schweigen gebracht werden.

Bei aller Einsicht in die totalitären Tendenzen in der eindimensionalen Gesellschaft, welche die traditionellen Mittel und Wege des Protests unwirksam werden lassen, und bei aller realistischen Skepsis gegenüber den vorhandenen Potenzen und Möglichkeiten, geschichtliche Alternativen zu verwirklichen, wird es immer Kräfte und Tendenzen geben, die der Eindimensionalisierung entgegenwirken.

Dennoch drückt sich im Begriff des ’Eindimensionalen Menschen’ ein totalitärer Charakter, eine Universalität des ’Verblendungszusammenhanges’, aus, die imstande ist, eine durchgreifende Veränderung der Gesellschaft und eine freie Entfaltung der Individuen auf Dauer entscheidend zu hemmen oder zu unterdrücken.


In der ’eindimensionalen Gesellschaft’ wird technische Produktivität zum Selbstzweck: innerhalb eines universalen technisch-politischen Systems, das die Natur und den Menschen dem allgegenwärtigen Produktionsapparat unterwirft, führt die allumfassende technologische Umgestaltung der Natur zu einer allumfassenden politischen Umgestaltung des Menschen.
In der Vorrede seines Buches resümiert Marcuse die Grundzüge seiner Konzeption in einer Formulierung, welche die Auffassung evozieren könnte, Marcuse bewege sich in einer gewissen Affinität zur ’seinsmetaphysischen Technikkritik’: in einem dialektisch gewandelten ’Vorwärtsgehen’ innerhalb der Heideggerischen Fährten:

„Als ein technologisches Universum ist die fortgeschrittene Industriegesellschaft ein politisches Universum - die späteste Stufe der Verwirklichung eines spezifischen geschichtlichen Entwurfs – nämlich die Erfahrung, Umgestaltung und Organisation der Natur als des bloßen Stoffs von Herrschaft. Indem der Entwurf sich entfaltet, modelt er das gesamte Universum von Sprache und Handeln, von geistiger und materieller Kultur. Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt. Produktivität und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die Gesellschaft und halten den technischen Fortschritt im Rahmen von Herrschaft. Technologische Rationalität ist zu politischer Rationalität geworden.“ (81)

In der ’Überwindung der Metaphysik’ (1936 bis 1945) diagnostizierte Heidegger eine Beseitigung des Unterschieds von Krieg und Frieden:
„’Krieg’ und ’Frieden’ sind, zu ihrem Unwesen abgeändert, in die Irrnis aufgenommen und, weil unkenntlich geworden hinsichtlich eines Unterschiedes, in den bloßen Ablauf des sich steigernden Machens von Machbarkeiten verschwunden“. (82)

Marcuse verweist parallel auf eine Verbindung des Kriegsführungsstaats mit dem Wohlfahrtsstaat in der modernen total mobilisierten Gesellschaft - durch eine: „Konzentration der Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der großen Konzerne, wobei die Regierung sich als anregende, unterstützende und manchmal sogar kontrollierende Kraft betätigt; Verflechtung dieser Wirtschaft mit einem weltweiten System von militärischen Bündnissen, monetären Übereinkünften, technischer Hilfe und Entwicklungsplänen; ... Beförderung einer prästabilierten Harmonie zwischen Wissenschaft und nationalem Anliegen; Angriff auf die Privatsphäre durch die Allgegenwart der öffentlichen Meinung, Auslieferung des Schlafzimmers an die Kommunikation der Massenmedien“. (83)

Marcuse sieht die Irrationalität im Ganzen der eindimensionalen Gesellschaft:

81.) Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 18/19
82.) Martin Heidegger, Überwindung der Metaphysik in: Vortr. und Aufs., S. 88/89
83.) Herbert Marcuse, Der eind. Mensch, S. 39

vorhandene materielle und geistige Ressourcen werden nicht genutzt, um einen Zustand zu erreichen, in dem die Menschen in Freiheit ihre Individualität entfalten könnten, sondern zur Aufrechterhaltung von Unfreiheit. Die Manipulation der menschlichen Bedürfnisse wird zunehmend perfektioniert. Sprache und Denken werden ihrer natürlichen, das Bestehende transzendierenden Funktion beraubt. Diese Elimination der zweiten Dimension, der Alternative, dessen, was sein könnte, sollte oder müsste, führt dann zu eindimensionaler Sprache und zu eindimensionalem Denken, welches das Bestehende verewigt und seine Irrationalität verschleiert.

Der Fortschritt der technologischen Rationalität beseitigt nach und nach alle fremden, oppositionellen und transzendierenden Elemente der ’höheren Kultur’: Sprache, Denken, Kritik, alle ’geistigen Sphären’ fallen dem Prozess einer ’Entsublimierung’ zum Opfer. Diese führt zu einer progressiven Ausschaltung der Kritik am Bestehenden - damit ist der vorherrschende Sozialisationstypus der einer ’repressiven Entsublimierung’:



„Was heute geschieht, ist nicht die Herabsetzung der höheren Kultur zur Massenkultur, sondern die Widerlegung dieser Kultur durch die Wirklichkeit. Diese übertrifft ihre Kultur. Der Mensch vermag heute mehr als die Helden der Kultur und die Halbgötter; er hat viele unlösbare Probleme gelöst. Aber er hat auch die Hoffnung verraten und die Wahrheit zerstört, die in den Sublimationen der höheren Kultur aufgehoben waren“ (84)

Alle Reflexionen, die hinter die Tatsachen zielen, auf die wirklichen Bindeglieder zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen individueller Lebens- und Universalgeschichte, zwischen Gegenwart und Geschichte, werden progressiv reduziert und minimiert.

„Freud deckte in der Psyche des Individuums die Verbrechen der Menschheit auf, in der individuellen Krankengeschichte die Geschichte des Ganzen. Dieses unheilvolle Bindeglied wird erfolgreich unterdrückt." (85)

Die Unterdrückung der Geschichte und der geschichtlichen Alternativen führt zur Überwindung des ’unglücklichen Bewusstseins’. Die Leistungsfähigkeit und Produk-tivität verabsolutiert alltäglich jene Macht, welche die Gesellschaft über den Menschen ausübt.

84.) Ebd. S. ???
85.) Ebd. S. 102

"Das Glückliche Bewußtsein - der Glaube, daß das wirkliche vernünftig ist und das System die Güter liefert - reflektiert den neuen Konformismus“. (86) Damit geht die Ideologie in der Wirklichkeit auf, sie steckt im Produktionsprozess selbst; alle aus ihm hervorgehenden Waren und Arbeitsleistungen, alle ’Erzeugnisse’, „’verkaufen’ das soziale System als Ganzes oder setzen es durch“. (87)

Die Menschen werden von diesen mannigfaltigen und vorteilhaften ’Erzeugnissen’ allseitig durchdrungen und manipuliert. Diese ’Erzeugnisse’ fördern ein gegen seine Falschheit immunisiertes falsches Bewusstsein. Indem immer größere Teile der Bevölkerung immer mehr Zugang zu diesen ’Erzeugnissen’ gewinnen, wird ihr massenhafter Konsum zum Lebensstil - zu einem viel besseren als je zuvor - „und als ein guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden.“ (88)

Die ’Rationalität’ des Systems tendiert zu einer Neubestimmung aller Begriffe, welche ihren allgemeinen Charakter tilgt und sie zu Partikeln degradiert, die eine eng umgrenzte Funktion innerhalb des Systems erfüllen.

86.) Marcuse, D. Eind. Mensch, S. 103
87.) Ebd. S. 31
88.) Ebd. S. 32 38.)

„Diese Tendenz kann mit einer Entwicklung der wissenschaftlichen Methode zusammengebracht werden: mit dem Operationalismus in den Naturwissenschaften, dem Behaviorismus in den Sozialwissenschaften. Ihr gemeinsamer Zug ist ein totaler Empirismus, was die Behandlung der Begriffe angeht; ihr Sinn wird auf die Darstellung partikularer Operationen und partikularen Verhaltens eingeengt." (89)

Der Grundzug des Operationalismus besteht darin, einen Begriff auf eine Reihe von Operationen zu reduzieren. Ähnliches passiert im eindimensionalen Denken: die Dinge und ihre Funktionen werden gleichgesetzt. Der sprachliche Ausdruck dieser Identifikation des Dings mit seiner Funktion:

„schafft ein grundlegendes Vokabular und eine Syntax, die einer Differenzierung, Trennung und Unterscheidung im Wege stehen. Diese Sprache, die den Menschen unausgesetzt Bilder aufnötigt, widersetzt sich der Entwicklung und dem Ausdruck von Begriffen. In ihrer Unmittelbarkeit und Direktheit behindert sie begriffliches Denken und damit das Denken selbst. Denn der Begriff identifiziert das Ding und seine Funktion nicht. ... Bevor er operationell gebraucht wurde, verneinte der Begriff die Identifikation des Dings mit seiner Funktion; er unterschied, was das Ding ist, von den zufälligen Funktionen des Dings in der bestehenden Wirklichkeit.“ (90)

89.) Ebd.
90.) Marcuse, D. E. M., S. 114

Die funktionalisierte, abgekürzte und vereinheitlichte eindimensionale Sprache ist neu. Im klassischen philosophischen Sinne ist das grammatische Subjekt des Satzes eine 'Substanz' und dieses grammatische Subjekt bleibt eine ’Substanz’ innerhalb der verschiedenen Zustände, Funktionen und Qualitäten, die der Satz vom Subjekt prädiziert.

Das Subjekt ist zwar auf eine aktive oder passive Weise auf seine Prädikate bezogen, aber das Subjekt bleibt von seinen Prädikaten unterschieden. Außer bei Eigennamen impliziert das Subjekt stets mehr als ein Substantiv:
„es nennt den Begriff eines Dings, ein Allgemeines, das der Satz, als in einem besonderen Zustand oder in einer Funktion befindlich bestimmt. Das grammatische Subjekt besitzt so eine Bedeutung, die mehr als die im Satz ausgedrückte enthält.“ (91)

Marcuse weist auf Humboldt, nach dem das Nomen als grammatisches Subjekt etwas bezeichnet, das „Beziehungen eingehen kann“, ohne mit diesen Beziehungen identisch zu sein. (92) Das Subjekt bleibt in diesen Beziehungen und gegen sie, das, was es ist. Das Subjekt ist ihr allgemeiner und wesentlicher Kern. Wenn
„ein Satz eine Definition seines Subjekts liefert, so löst er es nicht in seine Zustände und Funktionen auf, sondern definiert es als etwas, das sich in diesem Zustand befindet oder diese Funktion ausübt. Sofern es weder in seinen Prädikaten verschwindet noch als eine Wesenheit vor seinen Prädikaten und außerhalb ihrer besteht, konstituiert sich das Subjekt in seinen Prädikaten; das Resultat eines Vermittlungsprozesses, der sich im Satz ausdrückt.“ (93)

91.) Ebd. S. 114/115
92.) Vgl.: W. F. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Berlin 1935, S. 254
93.) Marcuse, Der Eindim. Mensch, a.a.O., S. 115




Marcuse fordert eine Rückbesinnung auf die klassisch-philosophischen Elemente der Grammatik, auf die Verbindung von grammatischem, logischem und ontologischem Subjekt, um Inhalte wieder ausdrückbar und kommunizierbar zu machen, die in der vereinheitlichten, funktionalen Sprache unterdrückt werden.

“Verkürzung des Begriffs in fixierten Bildern, gehemmte Entwicklung in hypnotischen Formeln, die sich selbst für gültig erklären, Immunität gegen Widerspruch, Identifikation des Dings (und der Person) mit seiner Funktion - diese Tendenzen offenbaren den eindimensionalen Geist in der Sprache, die er spricht.“ (94)

Die vereinheitlichte, funktionale Sprache blockiert die begriffliche Entfaltung - indem sie Abstraktion und Vermittlung ausschaltet, wehrt sie „die Anerkennung der Faktoren hinter den Fakten ab und damit die Anerkennung der Tatsachen und ihres historischen Inhalts.“ (95)

Damit ist die eindimensionale Sprache antikritisch, antidialektisch und antihistorisch und dient in einem eminent ideologischen Sinn als Vehikel von Gleichschaltung und Unterdrückung. In Marcuses Perspektive bildet dagegen die aufrechterhaltene Spannung von ’Sein’ und ’Sollen’, ’Wesen’ und ’Erscheinung’, ’Potentialität’ und ’Aktualität’ das zweidimensionale sprachliche Universum des kritisch-abstrakten Denkens, das auf die ’hinter den Tatsachen’ liegende geschichtliche Wirklichkeit zielt:

„so erwies sich die 'andere' Dimension des Denkens als geschichtliche Dimension - die Potentialität als geschichtliche Möglichkeit, ihre Verwirklichung als geschichtliches Ereignis. Die Unterdrückung dieser Dimension im gesellschaftlichen Universum operationeller Rationalität ist eine Unterdrückung der Geschichte, und das ist keine akademische, sondern eine politische Angelegenheit. Sie ist eine Unterdrückung der eigenen Vergangenheit der Gesellschaft - und ihrer Zukunft insoweit, als diese Zukunft an die qualitative Änderung, die Negation der Gegenwart appelliert." (96)

94.) Marcuse, D. E. M., S. 115/116
95.) Ebd. S. 116
96.) Ebd. S. 116/117


Eine Soziologie, welche versucht, die geschichtliche Dimension auszublenden, den reflektierten, kritischen Gebrauch transitiver Begriffe methodisch abzublocken, und sich im Rahmen operationeller Begriffe auf die Deskription empirisch nachweisbarer oder messbarer Fakten beschränkt, kann die wirklichen ’Tatsachen’ (z.B. der politischen Handlungen) nicht angemessen beschreiben. Viele wichtige und konstitutive ’Tatsachen’ liegen und bleiben ausserhalb ihrer Reichweite.

„Und aufgrund ... dieses methodologischen Verbots transitiver Begriffe, welche die Tatsachen in ihrem wahren Licht zeigen und bei ihrem wahren Namen nennen könnten - hemmt die deskriptive Analyse der Tatsachen deren Erfassung und wird zu einem Element der Ideologie, die die Tatsachen stützt. Indem sie die bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit als ihre eigene Norm proklamiert, befestigt diese Soziologie in den Individuen den ‚glaubenslosen Glauben’ an die Wirklichkeit, deren Opfer sie sind“ (97).

„Nichts bleibt als Ideologie zurück denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines Verhaltens, das der Übermacht der Verhältnisse sich fügt“ (98).

Gegen diesen ideologischen Empirismus macht sich der einfache Widerspruch erneut geltend“ (99) : „Das, was ist, kann nicht wahr sein“. (100)






In der klassischen griechischen Philosophie unterscheidet die wahre Rede, der ’Logos’, das, was wirklich ist, von dem, was wirklich zu sein scheint - Wahrheit und Falschheit ist zuerst eine Beschaffenheit des Seins und nur deshalb im Anschluss eine Eigenschaft von Sätzen.

„Und vermöge dieser Gleichung von Wahrheit und (wirklichem) Sein ist Wahrheit ein Wert .... Der Kampf um Wahrheit ist ein Kampf gegen Zerstörung, für die 'Rettung' des Seins (ein Bemühen, das selbst zerstörerisch scheint, wenn es die bestehende Wirklichkeit als ’unwahr’ angreift‚ ...). Sofern der Kampf um Wahrheit die Wirklichkeit vor Zerstörung 'bewahrt', verpflichtet und engagiert die Wahrheit die menschliche Existenz.“ (101)

97.) Marcuse, D. Eind. M., S. 138
98.) Theodor W. Adorno, ’Ideologie’ in: Kurt Lenk (Hrsg.) Ideologie, Neuwied 1961, S. 262/263
99.) Marcuse, a.a.O., S. 138
100.) Ernst Bloch, Philosophische Grundfragen I, Frankfurt 1961, S. 65

101.) Marcuse, a.a.O., S. 140/141


Die Wahrheit „ist der wesentliche menschliche Entwurf. Wenn der Mensch gelernt hat, zu sehen und zu wissen, was wirklich ist, wird er im Einklang mit der Wahrheit handeln. Erkenntnistheorie ist an sich Ethik, und Ethik ist Erkenntnistheorie.“ (102)

 
Die von der Erfahrung einer antagonistischen Welt geleitete Entwicklung philosophischer Kategorien ist zweidimensional: „Erscheinung und Wirklichkeit, Unwahrheit und Wahrheit (und ... Unfreiheit und Freiheit) sind ontologische Verhältnisse. ... In diesem Universum gibt es Seinsweisen, in denen die Menschen und Dinge ‚durch sich’ und als ‚sie selbst’ sind, und andere, in denen sie es nicht sind - das heißt unter Verzerrung, Beschränkung oder Verneinung ihrer Natur (ihres Wesens) existieren. Die Überwindung dieser negativen Beschaffenheit ist der Prozess des Seins und des Denkens“. (103)

„Logos und Eros sind subjektiv und objektiv zugleich. Der Aufstieg von den 'niederen' zu den 'höheren' Formen der Wirklichkeit ist ebenso Bewegung der Materie wie des Geistes. ... In der Strenge des Denkens und in der Narrheit der Liebe liegt die zerstörerische Absage an die bestehenden Lebensformen. Die Wahrheit gestaltet die Weisen des Denkens und Daseins um. Vernunft und Freiheit konvergieren" (104).

102.) Ebd. S. 141
103.) Marcuse, D. E. M., S. 141
104.) Ebd. S. 143

Deshalb muss die wirkliche Welt unserer lebenspraktischen Erfahrung „begriffen, verändert, sogar umgestürzt werden, um zu dem zu werden, was sie wirklich ist.“ (105)

Die Analytische Philosophie und die Sprachphilosophie stehen in einem diametralen Gegensatz zu derartigen klassischen oder dialektischen Vernunft- und Freiheitskon-zeptionen. Sie sehen ihren kritischen Ansatz darin, den mystifizierenden Charakter in allen Formen transzendenter Ausdrücke, vager Begriffe oder metaphysischer Universalien blosszustellen. An die Stelle metaphysischer Spekulation oder dialektischer Reflektion, die versucht, einen ’Rückgang in den Grund’ mit einem ’Vorwärtsgehen’ zu vereinen, tritt einerseits die Form eines reinen, in sich abgeschlossenen Formalismus und andererseits die Form eines totalen Empirismus: die reine Beschreibung formal-logischer und formalsprachlicher Formen und die reine Beschreibung vorgefundener Tatsachen.

Dementsprechend darf die Sprachphilosophie, nach Wittgenstein,
„den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten“. ... „Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen, es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten'." (106)

105.) Ebd. S. 139
106.) Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, i. c., S. 345


In Marcuses Sichtweise belassen die Ansätze der Analytischen Philosophie und der Sprachphilosophie durch ihre rein formale oder rein empirische Methode die behandelten Ausdrücke der Alltagssprache in dem repressiven Zusammenhang des bestehenden Sprachuniversums. Damit gerinnt die scheinbare Neutralität des reinen Empirismus zum Gegenteil des von ihm Intendierten: zum ’ideologischen Empirismus’:

"Die Gebundenheit der analytischen Philosophie an die verstümmelte Realität von Denken und Sprache geht schlagend aus ihrer Behandlung der Allgemeinbegriffe hervor.“ (107) Die Analytische Philosophie und die Sprachphilosophie versuchen, mythische oder metaphysische ’Gespenster’ wie ’Geist’, ’Bewusstsein’ oder ’Freiheit’ in Feststellungen über besondere identifizierbare Operationen, Funktionen oder Fertigkeiten zu überführen.

Die Allgemeinbegriffe haben, nach Marcuses Überzeugung, eine ontologische Funktion, sie bezeichnen, was eine besondere Wesenheit ist und nicht ist. Der in der wirklichen Welt lebende Mensch muss sich alltäglich innerhalb einer „metaphysischen Welt“ bewegen, in der er dem ’Abstrakten’ und ’Allgemeinen’ gegenübersteht:
„Allgemeinheiten sind primäre Erfahrungselemente - nicht als philosophische Begriffe, sondern als die Qualitäten eben der Welt, mit der es einer täglich zu tun hat.“ (108)

Mit der Reduktion der Allgemeinbegriffe auf Operationen und Funktionen widersetzt sich die Analytische Philosophie und die Sprachphilosophie dem geschichtlichen Inhalt der Rationalität und dem immanent-geschichtlichen und transzendenten, allgemeinen Charakter philosophischer Begriffe.

"In der totalitären Ära wäre die therapeutische Aufgabe der Philosophie eine politische, da das vorgegebene Universum der Alltagssprache die Tendenz hat, zu einem gänzlich manipulierten und indoktrinierten Universum zu gerinnen. Dann erschiene Politik in der Philosophie nicht als Sonderdisziplin oder Gegenstand der Analyse, auch nicht als eine besondere politische Philosophie, sondern als die Intension ihrer Begriffe, die unverstümmelte Wirklichkeit zu begreifen. Wenn

107.) Marcuse, D. e. M., S. 215
108.) Ebd. S. 223


die Sprachanalyse zu einem derartigen Verständnis nicht beiträgt, wenn sie stattdessen dazu beiträgt, das Denken im Umkreis des verstümmelten Universums der Alltagssprache einzufrieden, ist sie bestenfalls völlig inkonsequent." (109)


Die Sprachanalyse ist aufgrund ihrer autoritären und strengen Selbstbeschränkung weder in der Lage, die wirklichen individuellen Lebensprobleme der Menschen noch das Problem der das Überleben der Menschheit bedrohenden heutigen Zivilisationskrise in den Blick zu nehmen:


„Der introvertierte Gedankenarchitekt wohnt hinter dem Mond, den die extrovertierten Techniker beschlagnahmen.“ (110)

In der lebenspraktischen Wirklichkeit ent- wickelt sich das bestehende technologische Universum zunehmend zu einem Instrument destruktiver Politik. Marcuses Alternative zielt nicht auf die Klärung gewisser begrifflicher Missverständnisse und Mystifikationen und auf eine Summe quantitativer Fortentwick- lungen, sondern auf den Übergang zu einer höheren Stufe der Zivilisation: eine Transfor-mation der bestehenden Wirklichkeitsauf- fassung.

Eine solche neue Richtung implizierte eine fundamentale Negation der bestehenden Rationalität:
„das Entstehen einer neuen theoretischen und praktischen Idee der Vernunft. Diese neue Idee der Vernunft drückt sich aus in Whiteheads Satz“: „Es ist die Funktion der Vernunft, die Kunst des Lebens zu befördern“. (111)

109.) Marcuse, a.a.O. S. 213
110.) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Suhrk., S. 15

111.) Marcuse, D. e. M., S. 239. A. N. Whitehead, The Function of Reason, Boston: Beacon Press, 1959, S. 5

Diese neue Richtung verlangte, dass die Wissenschaft politisch würde; das wissenschaftliche Bewusstsein wäre als politisches Bewusstsein anzuerkennen.

"So muß die Frage noch einmal ins Auge gefaßt werden: wie können die verwalteten Individuen - die ihre Verstümmelung zu ihrer eigenen Freiheit und Befriedigung gemacht haben und sie damit auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren - sich von sich selbst wie von ihren Herren befreien ? Wie ist es auch nur denkbar, daß der circulus vitiosus durchbrochen wird ?" (112)


Nach Marcuse verändert die Eindimensionalität das Verhältnis zwischen Rationalem und Irrationalem. Die wirklich rationalen Ideen, die die ’Kunst des Lebens’ befördern, finden sich eher in den irrationalen Randbereichen der Kunst und Dichtung.

„Wenn die bestehende Gesellschaft jede normale Kommunikation verwaltet und im Einklang mit den gesellschaftlichen Erfordernissen bekräftigt oder schwächt, dann haben vielleicht die Werte, die diesen Erfordernissen fremd sind, kein anderes Medium, in dem sie kommuniziert werden können, als das abnorme der Dichtung. Die ästhetische Dimension wahrt sich noch eine Freiheit des Ausdrucks, die den Schriftsteller und Künstler befähigt, Menschen und Dinge bei ihrem Namen zu nennen - das sonst Unnenbare zu nennen." (113)

Eine ’affirmativ-dialektische’ Sichtweise kritisiert hier die in der ’Kritischen Theorie’ nicht seltenen Tendenzen zu einer ’Ästhetisierung’ in der Erkenntnisstruktur als eine philosophische ’Kapitulation’, als nicht haltbaren Rückzug aus der spezifisch philosophisch-begrifflichen Kritikebene.

112.) Marcuse, D. e. M., S. 261
113.) Marcuse, D. E. M., S. 258

Bedingung eines befriedeten Daseins wär’ die Entwicklung aller verfügbaren Ressourcen zur allseitigen Befriedigung der individuellen Lebensbedürfnisse. Die dominierenden Partikularinteressen stehen dem Erreichen dieses Ziels im Weg. Es müsste für das Ganze gegen die partikularen Interessen geplant und gehandelt werden.

„Aller Inhalt scheint auf die eine abstrakte Forderung nach dem Ende der Herrschaft reduziert - das einzige wahrhaft revolutionäre Erfordernis und das Ereignis, das die Errungenschaften der industriellen Zivilisation bestätigen würde. Angesichts ihrer wirksamen abschlägigen Beantwortung durch das bestehende System erscheint diese Negation in der politisch ohnmächtigen Form der 'absoluten Weigerung’ ...." (114)

Die Massen müssten sich, von Propaganda, Schulung und Manipulation befreit, zu einer Gesellschaft freier Individuen auflösen, die fähig sind, „die Tatsachen zu kennen und zu begreifen und die Alternativen einzuschätzen ... die Gesellschaft wäre in dem Maße vernünftig und frei, wie sie von einem wesentlich neuen geschichtlichen Subjekt organisiert, aufrechterhalten und reproduziert wird." (115)



Aber wie? Die negativ-dialektische Theorie kann, nach Marcuse, kein ’Heilmittel’ anbieten; sie kann die gegebenen Tatsachen begreifen, transzendieren und die geschichtlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten bestimmen – „deren Verwirklichung aber kann nur durch diejenige Praxis erfolgen, die der Theorie entspricht, und gegenwärtig liefert die Praxis keine derartige Entsprechung." (116)

Dies ist der schwächste Punkt der ’Kritischen Theorie’: sie ist unfähig, innerhalb des Bestehenden befreiende Tendenzen und Kräfte auszuweisen - sie kann ihre Rationalität nicht in die Begriffe einer geschichtlichen Praxis übersetzen.


114.) Ebd. S. 266
115.) Ebd. S. 263
116.) Marcuse, D. E. M., S. 264

„Was folgt daraus? Dass 'Befreiung der inhärenten Möglichkeiten' die geschicht-liche Alternative nicht mehr angemessen ausdrückt." (117)

Nach Marcuse ist das von materiellem Elend freigestellte Proletariat weitgehend sozial integriert (dies scheint sich heute, 45 Jahre später partiell und zunehmend wieder umzukehren)
und kein potentielles ’revolutionäres Subjekt’ mehr. Die Mehrheit des ’Volkes’ ist zum konservativen Ferment des gesellschaftlichen Zusammenhalts ‚aufgestiegen’.

Die Außenseiter jedoch, die Ausgebeuteten, Arbeitslose, rassisch und ethnisch Verfolgte, stehen außerhalb des ’demokratischen Prozesses’;
„ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. Ihre Opposition trifft das System von außen und wird deshalb nicht durch das System abgelenkt; sie ist eine elementare Kraft ...“. (118)

Nur wenige privilegierte soziale Randgruppen hatten bisher die Möglichkeit, Utopien einer besseren Welt zu entwickeln und der Eindimensionalität zu widerstehen, in denen
„die beschriebenen Tendenzen nicht herrschen - ich würde sagen: noch nicht herrschen.“ (99)

117.) Ebd. S. 265
118.) Ebd. S. 267

119.) Ebd. S. 20


Es „besteht die Chance, dass die geschichtlichen Extreme ... wieder zusammentreffen: das fortgeschrittenste Bewusstsein der Menschheit und ihre ausgebeutetste Kraft. Aber das ist nichts als eine Chance. Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, welche die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben." (120)
                
120.) Ebd. S. 268

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Am Anfang seines Buches aus dem Jahre 1964 sprach Herbert Marcuse von 'Tendenzen in den höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften', die, wie der Titel beschreibt, einerseits  im technologischen Medium Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System verschmelzen und andererseits weite Bereiche innerhalb und außerhalb dieser Gesellschaften noch nicht durchdringen, in denen die beschriebenen Tendenzen noch nicht herrschen. 
              
Nach meiner Auffassung ist das Buch heute mindestens genauso aktuell, wie damals. Und auch heute gibt es noch beide antagonistischen Tendenzen. Sind möglicherweise heute viele systemimmanente eindimensionale Entwicklungen noch stärker geworden, als im Aufbruch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre?
                   
1964 wurde bereits von vielen aufmerksamen Beobachtern die sich künftig verschärfende ökologische Problematik gesehen. Lange Zeit gab es im Hinblick auf die  ökologische Krise in den Wissenschaften, der Politik und in der Gesellschaft ebenfalls zwei gegensätzliche Auffassungen, die sich gegenseitig beschuldigten, entweder  die Situation zu verharmlosen oder unberechtigt ein Katastrophenszenario zu entwerfen.
            
Heute sind die vom Menschen gemachten ökologischen Probleme unübersehbar geworden. Mit den partiellen Erkenntnissen, die wir haben, lässt sich doch mit ziemlicher Sicherheit sagen: wir haben nicht mehr viel Zeit, nurmehr ein paar Jahre, ein Jahrzehnt oder bestenfalls ein paar Jahrzehnte, um die sich immer deutlicher abzeichnende, herannahende Katastrophe durch radikale und schnelle Veränderungen möglicherweise doch noch abwenden zu können.
           
Somit reicht heute eine herkömmliche kritische Gesellschaftstheorie nicht mehr aus, um der aktuellen Zivilisationskrise zu begegnen. Wir brauchen eine philosophisch-politische Zivilisationskritik, die nicht mehr nur politisch, ökonomisch und gesellschaftstheoretisch operiert, sondern alle unsere Begegnungen aller Art mit dem Seienden, mit den Menschen, der Natur und den ökologischen Prozessen philosophisch-kritisch reflektiert und Wege aufzeigt, wie wir vom heute global vorherrschenden Zeitgeist des 'Willens zur Macht', von der universalen Herrschaftrationalität, zu einer 'Assoziation' kommen können, zur schnellstmöglichen 'wahrhaften Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit dem Menschen und mit der Natur'.
                      
Ist zumindest eine partielle, aber auch konsequente 'Verwirklichung der Philosophie', eine Verwirklichung von viel mehr 'Rezeptivität', 'Reziprozität' und 'Assoziation' in allen Bereichen unseres Handelns und der Technologien aus einem humanistischen 'Traum von Freiheit' zu einer akuten Notwendigkeit geworden?  



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Zum 5. Teil bitte hier klicken: Versuch einer Skizze zur aktuellen Notwendigkeit einer ’Verwirklichung der Philosophie'.
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Berlin Steglitz-Zehlendorf, Berlin, Germany
„Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.“ Seit langer Zeit versuche ich, politisch-philosophisch gegen die Selbstzerstörung unserer Zivilisation zu agieren und auch täglich zum Augenblicke sagen zu können: „Verweile doch! du bist so schön!" Nur durch intensive Erfahrung sind Menschen und Realitäten fassbar, zeigte mein Austauschjahr in Kalifornien. Der immense Technikfortschritt und barbarische Politikrückschritt liessen mich (statt Mathematik, Physik, Astrophysik etc.) Philosophie, Politik, Psychologie, Amerikanistik, Kunst studieren. Anders als die Schule liebte ich die damals 'freiere' Universität Berlin. Bis heute bin ich dort leidenschaftlich tätig. Seit 76 befasse ich mich mit Computerprogrammierung, später mit MIDI, Grafikprogrammen, Spracherkennung usw. Kreierte Aufsätze, Vorträge, Musik, Kunst, Videokunst, organisierte Ausstellungen, bin mehr als 30 Jahre gesegelt, liebe Natur und Abenteuer, lebte zeitweise auf dem Lande (ökolog. Landbau) und versuche jetzt, zwei allgemeinverständliche, spannend lesbare politisch-philosophische Bücher zu schreiben: Philosophie ist "ihre Zeit in Gedanken erfaßt".