Realistische Dialektik und das Problem einer Verwirklichung der Philosophie. Falko Konrad

Die Erde erscheint riesig, im unendlichen Meer des Universums ist sie ein winziges Schiffchen, auf dem wir gemeinsam leben. Eine ’problemorientierte Philosophie’ ist mit dem „Bau eines Schiffes auf offenem Meer“ vergleichbar. Heute sind durchaus Hunderte Millionen Menschen an der "wahrhaften Auflösung des Widerstreites" interessiert, engagiert und konstruktiv an unserem Schiff tätig - aber: Milliarden entfernen (teils bewusst, teils unbewusst) unten im Rumpf Planken, um sie an Deck zu verhökern.

"Das, was ist, kann nicht wahr sein." (1)


1.) Bloch, Ernst, Philosophische Grundfragen I, Frankfurt 1961, S. 65
              
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Inhalt:

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1. Einleitung.

2. Umrisse einer 'dialektischen Alternative' zum metaphysischen Geistbegriff.

3. Die Verwirklichung des Hegelschen Prinzips der Einheit von Philosophie und Welt,   Begriff und Wirklichkeit, Subjektivität und Objektivität.

4. Die Aporie einer ’Verwirklichung der Philosophie’ in der 'Eindimensionalität'.

5. Versuch einer Skizze zur aktuellen Notwendigkeit einer ’Verwirklichung der Philosophie'.

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1. Einleitung.


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Wir blicken ’jetzt’ auf diesen ’Punkt’ im Raume. Wir, das sind, im Augenblick, wir selbst, unser jetzt existierendes, lebendes Ich. Ich selbst sitze hier an einem ’Punkt’ im Raume und blicke ’jetzt’ auf diesen nächsten, neuen ’Punkt’ auf diesem Stück Papier oder auf diesem Bildschirm. Doch was ist dieses ’Jetzt’ und was ist der von mir erblickte ’Punkt’? Beide scheinen zunächst einfach zu sein: punktuelle Zustände der Zeit und des Raumes.

Doch ich bin nicht ’wirklich’ ’jetzt’ hier, weil jedes ’jetzt’ ’jetzt’ schon vergangen ist, sondern ich bin hier in einer zusammengesetzten ’Jetztfolge’. (2)

Dieses von mir erlebte ’Nacheinander der Jetztfolge’ beinhaltet eine Integration aus länger vergangenen, gerade vergangenen und gerade kommenden Momenten.

Nur wenn es mir gelingt, die vergangenen Momente ’nachzubilden’, die kommenden Momente ’vorzubilden’ und all diese Einzelmomente zusammengesetzt ’abzubilden’, kann ich zu einer Präsenz kommen. In einer überdauernden, integrierenden Brücke aus dem Vergangenen in das Kommende erscheint so etwas wie ’Gegenwart’. (3)

Die nacheinander auftretenden Einzelmomente erscheinen einheitlich in einem ’Feld’. das die früheren, die nahen und die kommenden Augenblicke in der Zeit strömend gleichzeitig präsentiert:

„In meinem ‚Präsenzfeld’ im weitesten Sinne - in diesem Augenblick, währenddessen ich arbeite, mit dem Horizont des verflossenen Tages hinter ihm und dem Horizont des Abends und der Nacht vor ihm - trete ich in Berührung mit der Zeit, lerne ich den Lauf der Zeit kennen.“ (4)

2.) Vgl.: Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen, Felix Meiner Verlag
3.) Vgl.: Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, Klostermann, S. 169 ff
4.) Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, De Gruyter 1966, S. 472

Und ’jetzt’ ist mein Blick auf einen dritten ’Punkt’ gerichtet, der aber ebenfalls kein wirklicher Einzelpunkt ist, sondern ebenfalls eine zusammengesetzte Ansammlung vieler Punkte.

Nacheinander hatte ich auf diesem Papierblatt oder Bildschirm drei Punkte und die dazwischenliegenden im Blick und liess sie alle, als zu Linien, Kurven und diese zu Buchstaben, Wörtern, Sätzen und Gedanken vereinigt, auf mich ‚einströmen’.

Was ich jetzt „wirklich“ „weiss“, ist, dass ich in dem, was immer es sei, welches wir ’Bewusstsein’ nennen, einen Strom von nacheinander folgenden ’Jetzt-Momenten’ erlebe: einen ’Bewusstseinsstrom’ von ’Jetzt-Momenten’, in dem eben noch drei Raumpunkte, ein ’Präsenzfeld’ und jetzt ein Strömungscharakter vorkamen.

Allerdings war ich es selbst, so scheint es mir, der sich entschieden hatte, diese Raumpunkte und Wörter auf sich einströmen zu lassen. Ich habe in der gegenwärtigen Folge der ’Jetzt-Momente’: Punkte zu Linien, Kurven und diese zu Buchstaben, Wörtern, Sätzen und Gedanken zusammengesetzt. Die nacheinander in meinem ’Bewusstseinsstrom’ auftretenden Punkte erschienen in einer Abfolge von ’Blickpunkten’. Jeder Blickpunkt erfolgte durch eine neue ’Blickrichtung’, durch eine neue ’Perspektive’ Die Blickpunkte lagen in einem zusammenhängenden ’Punktfeld’. Die Integration der gegenwärtig in meinem ’Bewusstseinsstrom’ erlebten Blickrichtungen eröffnet mir mein gegenwärtiges ’Blickfeld’ - dieses ist ein aus vielen nacheinander gesichteten und integrierten Raum- und Zeitpunkten zusammengesetztes, ein synthetisiertes.

Jedoch erscheint in meinem gegenwärtigen ’Bewusstseinsstrom’ viel mehr als nur dieses eine Blickfeld, welches ich gerade auf diesem Blatt Papier übersehe: schon die in meinem ’Bewusstseinsstrom’ nebenbei gerade ablaufende ’Integration der Blickpunkte’ zu Linien und Kurven, zu Buchstaben und Wörtern ist nur möglich, weil ich diese kulturelle Fähigkeit bereits vor langer Zeit eingeübt hatte. Und die nächsthöhere folgende Integration der einzelnen Sätze zu einem Verständnis gelingt mir nur aufgrund meiner gesamten bisherigen sprachlichen und kulturellen ’Sozialisation’, die ich in meinem gesamten bisherigen Leben erleiden durfte - oder musste.

Das heisst: in meinem gegenwärtigen ’Bewusstseinsstrom’ integriere ich nicht nur die Abfolge der nahen‚ eben noch vergangenen, ’Jetzt-Momente’, sondern diese gegenwärtige Integration der ’Jetzt-Folge’ basiert in hohem Masse auf einer Zusammensetzung vieler und teil- weise weit zurückreichender ’Momente’. Auch räumlich fasse ich gerade viele Blickrichtungen zusammen, denn, wenn ich mich auch gerade primär auf das mir vorliegende Blickfeld auf diesem Blatt Papier konzentriere, so sehe ich doch genau, dass dieses gegenwärtig gesichtete Blickfeld in viele weitere Blickfelder eingebettet ist.

Neben diesem Papierblatt sehe ich vielleicht einen Tisch, auf dem es liegt, an dem ich sitze, in einem Raum, in einem Haus, in einer Stadt oder unter einem Baum, in einer Landschaft: in einer Gesellschaft, in einer politisch-geschichtlichen und weltpolitischen Situation, in einer Welt, mit einer Vergangenheit und mit einer Zukunft, in einer bestimmten - meiner - gegenwärtigen Lebens-situation.

All diese Blickfelder sind in meinem gegenwärtigen Bewusstseinsstrom neben dem Blickfeld, auf welches ich mich gerade konzentriere, im ’Hintergrund’ mitanwesend. In meinem gegenwärtigen Bewusstsein strömen im ’Vordergrund’ diese nahen Raum- und Zeitpunkte des ’Hier und Jetzt’ vor anderen hintergründigen Blickfeldern der Vergangenheit und des weiteren mich umgebenden Raumes.

Zwar scheinen die ’Täuschungsmöglichkeiten’ über den ’Hintergrund’, über die räumlich und zeitlich entfernteren Blickfelder, grösser zu sein, dennoch wäre es theoretisch möglich, so wurde es von den ’Skeptikern’ in der Geschichte der Philosophie immer wieder vorgetragen, dass ich mich auch über diesen ’Vordergrund’ täuschen könnte, der möglicherweise nur scheinbar „klar und deutlich“ vor meinen Augen liegt.

Durch Anklicken (wie immer) können Sie das Bild vergrössern - blicken Sie auf den Punkt in der Mitte und bewegen Sie den Kopf vor und zurück.j

Vielleicht erlebe ich auch gerade ’jetzt’ eine ’Illusion’ oder eine ’Halluzination’ und befinde mich in Wirklichkeit an einem ,ganz anderen Ort’, als es mir erscheint: ich könnte etwas in der Art eines ’Traumes’ erleben, in dem ich nicht weiss, dass ich träume, sondern glaube, mich irgendwo im Raume zu bewegen, während ich in Wirklichkeit ruhig in meinem Bett meinen nächtlichen ’Bewusstseinsstrom’ geniesse oder erleide. Ein übelwollender Dämon könnte mir dieses strömende Feld ’einspiegeln’; auch gewisse Grundideen und Grunderfahrungen, z. B. dass ich bin und dass ich ’jetzt’ hier sitze, an diesem Orte im Raum, in dieser - meiner - Welt.

Vielleicht sind wir bewegungsunfähig Gefesselte und blicken zeitlebens nur auf eine vor uns liegenden Höhlenwand, und halten die dort abgebildeten Schattenbilder für die wahre Realität - wie in Platons 'Höhlengleichnis':

Mein Illustrationsversuch ist nur einer von vielen.

(Durch Anklicken des Bildes, kann es vergrössert werden.)






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Wenn Sie hier klicken, kommen Sie zu einer philologisch äusserst umstrittenen Übersetzung von Martin Heidegger, die jedoch, nach meiner Auffassung, seinen grossen philosophischen Sachverstand (insbesondere im Bezug auf die antike Philosophie) und eine unüberbotene sprachliche Formvollendung aufweist.
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Vielleicht bin ich ’in Wirklichkeit’ nur so etwas wie eine ’Simulation’, ein fremd-bestimmter, ferngesteuerter Roboter, der, um zu funktionieren, so programmiert ist, dass mir ein ’Selbstbewusstsein’ nur vorgespiegelt wird und eine gewisse ’Freiheit’, als könnte ich mich wirklich selbst frei entscheiden.


Ich könnte nur eine künstliche, utopische ’Identitätseinheit’ sein; in einer vollständig digital simulierten Welt, die keinen festen Ort mehr hat. Die nicht mehr z.B. eine im Raum eindeutig bestimmbare Schaltkreis- oder Prozessoranordnung „bewohnt“, sondern nur als mathematisch-logische ’Teilstruktur’ in einem massiv parallel prozessierenden universalen Computer-programm erscheint. (5)

Doch selbst wenn dieses sehr phantastische und bizarre Modell wirklich existierte und wenn ich diese Tatsache unzweifelhaft herausfände und wenn ich nicht die Möglichkeit hätte, auf dieser neu entdeckten digitalen Ebene einzugreifen oder dieser gewaltigen digitalen Maschinerie irgendwie auch nur partiell zu entkommen - dann könnte ich mich letztlich auch nicht anders Verhalten, als ich es zuvor, ohne dieses Wissen von dieser ’absoluten’ maschinellen Grundstruktur, getan hatte.

Ich müsste mich weiter (auch als nun ’bewusst’ gewordene ’Simulation’) gemäss der von mir in dieser bisherigen (simulierten) Welt gemachten Erfahrungen - innerhalb ihres Strukturgefüges - in meiner Welt - verhalten. Ich könnte mich auch weiterhin nur innerhalb meiner bisherigen Erfahrungen und meiner bisherigen Lebenswelt bewegen. Es spielte keine wesentliche Rolle für meine realen Lebensbewegungen, ob mir gewisse absolute Grundbedingungen einer höheren Wirklichkeitsebene etwas vorspiegelten oder nicht, wenn es keinerlei Fluchtmöglichkeiten gäbe und wenn dieses universelle Vorspiegelungssystem immer und ewig und unabänderbar anhielte und von allen Wesen, denen ich in der Welt begegne, gemeinsam immer völlig gleichartig erlebt würde.

5.) Vgl.: Writer, Thomas, The Thirteens Floor, Boston 1961;
Vgl.: Emmerich, Roland, The Thirteens Floor, Hollywoodfilm aus dem Jahre 1998;
Vgl.: Fassbinder, Rainer Werner, Welt am Draht, Fernsehfilm aus dem Jahre 1973;
Vgl.: Gilliam, Terry, Matrix, Kinofilm aus dem Jahre 1998



Ich weiss nicht absolut sicher, ob ich wirklich hier gegenüber diesem Blatt Papier oder dem Bildschirm sitze, auf das sich augenblicklich meine Blickrichtungen konzentrieren. Ob dieser jetzt betrachtete Blickpunkt ’wirklich existiert’ oder nur in einem irgendwie gearteten virtuellen Universum simuliert wird - z. B. als eine subdimensionale holographische Projektion eines Universums, das nur eine Teilstruktur ist: im Gesamtprozess vieler paralleler Universen oder auch ganz anders; in einer multidimensionalen Prozessvielfalt, die wir uns prinzipiell niemals auch nur andeutungsweise veranschaulichen könnten.



Wir können zwar relativ leicht eine vierdimensionale Raumstruktur mathematisch beschreiben, und diese mathematische Struktur ist im Grunde selbst der ’Veranschaulichungsversuch’, aber wir können sie uns nur schwer nichtmathematisch, bildlich veranschaulichen.

Zur Veranschaulichung könnten wir noch am ehesten eine Dimensionsstufe herabsteigen, um uns zweidimensionale Wesen vorzustellen, die sozusagen ohne jede Höhe, auf einer Fläche, wie z.B. auf diesem Papierblatt, auf das ich ’jetzt’ gerade schaue, als kleine zusammenhängende ’Punktfelder’, als Flächen, leben, welches natürlich nicht möglich ist. Sie wären auf ihrem „zweidimensionalen“ Papierblatt gefangen.

Wir erschienen diesen zweidimensionalen Wesen als höhere Wesen, denn für uns dreidimensionale Wesen wär’ es ein leichtes, sie über die dritte Dimension, nach oben, und dann zur Seite über den Papierrand hinaus aus ihrer Welt herauszuheben. Falls dies jedoch niemals geschehe, dass ein höheres Wesen in ihre Geschicke eingriffe und falls sie prinzipiell niemals Einblicke in diese höhere, dritte Dimension gewinnen könnten, dann hätte die Existenz oder Nichtexistenz dieser dritten Dimension für sie, für ihr alltägliches zweidimensionales Leben, keinerlei Bedeutung, sie könnten nur weiterhin innerhalb ihrer Welt - in ihrer Welt - agieren.
Eine für uns prinzipiell unerreichbare absolute Sphäre hätte keine Bedeutung für uns und unsere Lebenswelt.

Wir können nur hier und jetzt leben.



Edmund Husserl (1859 bis 1937) richtete sich in seinen über 45.000 Seiten umfassenden Analysen der im ’transzendentalen Bewusstseinsfeld’ erscheinenden Phänomene konstruktiv gegen verschiedene Formen des ’Skeptizismus’ und seine Leugnung einer Wahrheitsmöglichkeit und gegen die Auffassung, dass alle Wahrheit nur subjektiv sei und keine mit einer höheren Wahrscheinlichkeit behaftete 'Objektivität' intersubjektiv rekonstruierbar sei.

Die Betrachtung im Horizont der ’Bewusstseinsströme’: der Rahmen meines ’transzendental reduzierten Bewusstseins’, die ’Einklammerung’ der Welt, die Ausschaltung der Frage, ob und wie diese Aussenwelt ’absolut’ existiert, soll nicht in geringstem Maße eine ’ontologische’ Vorentscheidung sein - sondern eine rein erkenntniskritisch-methodische. Husserl versucht gegen den Skeptizismus und den Dogmatismus die Philosophie methodisch-wissenschaftlich neu zu begründen.

Die Reduktion auf die Ebene der Auslegung des ’transzendentalen Bewusstseinsfeldes’ soll nicht eine Spielart des ’Subjektivismus’ oder des ’kantischen transzendentalen oder des hegelischen absoluten Idealismus’ wiederbeleben, nämlich die Auffassung, dass wir als Subjekte oder wir als Teil einer Gesamtsubjektivität die Dinge der Aussenwelt so allumfassend konstituierten, dass die Phänomene dieser Aussenwelt nicht auch - in irgendeiner Form - als ’Selbstgegebenheiten’ - ohne uns als 'transzendental Apperzipierende' oder den 'einen absoluten allumfassenden Weltgeist' zumindest relativ eigenständig existierten.

Zumindest weiss ’ich’ doch eines mit einer gesteigerten Sicherheit: dass jetzt für mich dieser, mein augenblicklicher ’Bewusstseinsstrom’ abläuft. Ich weiss nicht, was er wirklich ist, wie er zustande kommt, unter welchen Grundbedingungen er wirklich prozessiert und auch nicht genau, wohin er führt - aber ich weiss oder vielmehr: ich ,erlebe’ gerade, dass etwas, ’scheinbar’ in mir, ’abläuft’, das man vielleicht am ehesten noch mit dem Begriff: mein ’gegenwärtiger Bewusstseinsstrom’ umschreiben könnte.

In meinem ’Bewusstseinsstrom’, das weiss ich, ‚strömt’ etwas jetzt so, dass es mir so erscheint, als blickte ich jetzt auf diesen ’Punkt’, als integrierte ich diese ’Punkte’ zu Linien und Kurven, zu Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Ich weiss genau, dass ich so etwas wie einen ’Bewusstseinsstrom’ erlebe, in dem mir möglicherweise nur vorgespiegelt wird, dass ich hier gegenüber diesem Blatt Papier oder Bildschirm sitze, an einem Tisch, auf dem es liegt oder er steht, an dem ich auf einem Stuhl oder Sessel sitze, in einem Raum, in einem Haus oder aber auch unter einem Baum, in einer Landschaft oder in einer Stadt, in einer Gesellschaft, in einer politisch-geschichtlichen und weltpolitischen Situation, in einer Welt, in einer bestimmten - meiner - gegenwärtigen Lebenssituation.


Hier, im ’Präsenzfeld’ meiner gegenwärtigen ’Jetzt-Folge’, innerhalb meines jetzigen ’Bewusstseinsstromes’, als ’transzendental reduziertes Bewusstsein’, befinde ich mich am Ausgangspunkt meines ’Horizontes’, in dem mir mannigfaltige nahe und ferne Blickfelder erscheinen. Mein Horizont ist mehr ein aus mehreren oder vielen Horizonten Zusammengesetztes, ein ’Präsenzfeld’ aus einigen nahen, vordergründigen und vielen fernen, hintergründigen ’Horizonten’.

Aber auch vor mir, in meiner unmittelbaren Zukunft liegen ’potentielle’ Horizonte, die ich zwar so oder so erschliessen kann; doch ist „selbstverständlich“ keineswegs jede beliebige Horizontbildung aus meinem transzendentalen Bewusstsein heraus, sozusagen: ’rein konstituierend’, möglich, vielmehr sind in meinem Erlebnisstrom nur bestimmte Abfolgen der Stromphasen realisierbar.

Meine Erlebnisabfolgen sind immer von unzweifelhaft äusserlich gegebenen Inhalten mitbestimmt. Ich treffe auf von aussen selbstgegebene Strukturzusammenhänge, die nur bestimmte Realisierungen von Potentialitäten innerhalb meines Erlebnisstromes zulassen, die ich in zielgerichteter Aktualisierung bestimmter Potentialitäten erkunden und freilegen
kann, um in angemessenen ’Vermittlungen’ meiner ’Innenwelt’ mit meiner umgebenden ’Aussenweltstruktur’ von mir gewünschte Erlebnisabfolgen zu verwirklichen. Jede Aktualität impliziert ganz bestimmte, inhaltlich vorgezeichnete Potentialitäten:

„Vielmehr impliziert jede Aktualität ihre Potentialitäten, die keine leeren Möglichkeiten sind, sondern inhaltlich, und zwar im jeweiligen Erlebnis selbst, intentional vorgezeichnete, und zudem ausgestattet mit dem Charakter vom Ich zu verwirklichender. Damit ist ein weiterer Grundzug der Intentionalität angezeigt. Jedes Erlebnis hat einen im Wandel seines Bewusstseinszusammenhanges und im Wandel seiner eigenen Stromphasen wechselnden Horizont - einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewusstseins.“ (6)

6.) Husserl, Cartesianische Meditationen, a.a.O. S. 81

Nun treffe ich, als ’transzendental reduziertes Bewusstsein’, innerhalb meines ’Erlebnisstromes’, in meinem ’Horizont’, nicht nur auf leblose Dinge, sondern auch auf lebendige Wesen, wie z.B. Pflanzen oder Tiere. In ihnen deuten sich mir archaische, mit mir verwandte Wesenheiten an, die auch irgendwie geartete 'Selbstbeziehungen' haben und die sich so zu verhalten scheinen, als hätten auch sie auf irgendeine Art (zumindest optisch) horizonthafte Perspektiven und als ’kommunizierten’ sie in gewisser Weise miteinander.

Und ’jetzt’ begegnen mir innerhalb meines ’Bewusstseinstromes’ ’Spiegelungen’ von ’Wesen’, welche, wie ich, ’Bewusstseinsströme’, ’Perspektiven’ und ’Horizonte’ zu haben scheinen.


Ich weiss also erstens, mit gesteigerter Sicherheit, dass ich einen ’Bewusstseinsstrom’ habe: mit diversen Horizonten und ich weiss zweitens, mit gesteigerter Sicherheit: dass innerhalb meiner Horizonte andere Wesen auftauchen, die ihrerseits, wie ich, Perspektiven und Horizonte haben, die mit meinen Horizonten wechselseitig und reflexiv korrespondieren und dass wir uns in zwar wandelbaren aber partiell einstimmig ausweis-baren gemeinsamen ’Erfahrungs- horizonten’ bewegen:

„die Anderen erfahre ich, und als wirklich seiende, in wandelbaren, einstimmigen Erfahrungsmannig-faltigkeiten, und zwar einerseits als Weltobjekte; nicht als bloße Naturdinge (obschon nach einer Seite auch als das). Sie sind ja auch erfahren als in den ihnen je zugehörigen Naturleibern psychisch waltende. So mit Leibern eigenartig verflochten, als psychophysische Objekte, sind sie „in“ der Welt. Andrerseits erfahre ich sie zugleich als Subjekte für diese Welt, als diese Welt erfahrend, und diese selbe Welt, die ich selbst erfahre, und als dabei auch mich erfahrend, mich, als wie ich sie und darin die Anderen erfahre.“ (7)

Ich kann ’im Anderen mich selbst’ finden und unsere intersubjektive, gemeinsame Welt. Nicht nur können sich zu meinen Horizonten die Horizonte der Anderen hinzuaddieren - auch erscheinen in meinen Horizonten die Anderen als ebenfalls horizontbildende Subjekte, in deren Horizontbildungen ich meine Horizontbildungen vielfach gespiegelt und gebeugt wiedererblicken kann und sie wiederum meine Horizontbildungen in ihren Spiegelungen meiner Spiegelungen usf.

In meinen Horizonten erfahre ich die Welt nicht als mein „privates synthetisches Gebilde“, dass sich nur in meinem Bewusstsein abspielte, sondern als eine ’intersubjektive’ Welt:

„Jedenfalls also in mir, im Rahmen meines transzendental reduzierten Bewusstseins, erfahre ich die Welt mitsamt den Anderen und dem Erfahrungssinn gemäß nicht als mein sozusagen privates synthetisches Gebilde, sondern als mir fremde, als intersubjektive, für jedermann daseiende, in ihren Objekten jedermann zugängliche Welt“ (8)

7.) Vgl.: Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen, a.a.o. S
8.) Ebd. S.

Die ’intersubjektive’ Selbstreflektion soll uns nicht aus unserer realen Welt hinausführen in eine intersubjektive ideelle Scheinwelt, sondern sie soll uns helfen, in unsere eigene wirkliche ’intersubjektive’ Welt hineinzufinden, denn die

„in diesem reflektierten Leben erfahrene Welt bleibt dabei in gewisser Weise für mich weiter und genau mit dem ihr jeweilig zugehörigen Gehalt erfahrene wie vorher.“ (9)

9.) Ebd. S.


Es geht Edmund Husserl um die Frage, wie innerhalb der von uns allen prinzipiell und real gemeinsam erlebten, ’intersubjektiven’ Welt begründete perspektivische Erkenntnisse und daraus begründete Handlungen möglich sind.

Husserls will „zu den Sachen selbst“ kommen, indem er zuerst die Horizonthaftigkeit unserer Existenz erkenntniskritisch reflektiert, um diese dann methodisch fruchtbar zu machen; da sie nicht nur selbstkritisch unsere Erkenntnisgrenzen auslotet, sondern zahllose perspektivische Möglichkeiten und Chancen eröffnet, die darin liegen, dass wir Viele sind, mit vielen Horizonten und Perspektiven.


In unserem intersubjektiven ’Heraussehen’ können wir zu ’Evidenzen’ kommen, in denen uns gemeinsam etwas aus der Sache heraus einleuchtet und zu vielerlei schlagartigen, intuitiven und gewissen ’Einsichten’, die unterschiedlichste Evidenzgrade aufweisen können.

Mit absoluter Sicherheit weiss ich, der ich den gegenwärtigen ’Bewusstseinsstrom’ erlebe, nichts über diese Welt da draussen, nicht wie sie entstanden ist und nicht wie sie sich entwickeln wird. Und ich weiss auch nicht auf einer absoluten Ebene, woher ich komme, wer ich bin und wohin ich gehe und ob diese mir vorgespiegelte äussere Welt überhaupt auch nur annähernd so existiert, wie sie mir vorgespiegelt erscheint.

Doch aus den erwähnten Gründen spielt das, wenn es keinerlei auch nur partiellen Auswegmöglichkeiten aus der vorgespiegelten Simulation für mich und alle anderen Menschen gibt überhaupt keine Rolle für mein wirkliches Leben und das der anderen Menschen.

Deshalb sind für unser ’wirkliches Leben’ nicht auf einer absoluten, transzendenten Ebene liegende universale ’Täuschungssysteme’ relevant, sondern relative ’Täuschungsmöglichkeiten’ sind viel akuter und wesentlicher.

Die Linien in diesem Bild sind tatsächlich alle gerade und liegen parallel.

Zum Beispiel ’Selbsttäuschungen’ über unsere eigenen, zeitlich und räumlich entfernteren Blickfelder: habe ich mich nicht schon mehrmals in einzelnen früheren meiner Lebensabschnitte ’getäuscht’ und ist mir dann nicht erst später bewusst geworden, das es ’wirklich’ ganz anders war, als es mir damals erschien?

Im ’Hinblick’ auf ’Partnerschaften’, ’Liebesverhältnisse’ und andere ’soziale Beziehungsprobleme’ haben sicher viele von uns ’Täuschungen’, ’Enttäuschungen’ und ’Selbsttäuschungen’ erlebt und hoffentlich auch ’Lernprozesse’, die frühere, getäuschte ’Sichtweisen’ zu überwinden halfen und diese durch erfahrenere, angemessenere Sichtweisen ersetzten.

Vor allem in den Unter- und Hintergründen unserer lebensgeschichtlichen Erfahrung stehen wir vielen ’Täuschungsmöglichkeiten’ gegenüber. Autoritäre oder falsche Erziehungsstrategien könnten zu ’Täuschungen’ und ’Enttäuschungen’ geführt haben.

Die sprachlich-kulturellen, religiösen und ethischen Sozialisationsprozesse in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften sind „unbestreitbar“, nach wie vor, voller repressiver, autoritärer und disziplinierender Momente und insbesondere der stark manipulative und oft ideologische Charakter in den allgegenwärtigen politischen Diskussionen und Diskursen führen sicher vielfach zu tiefen Deformationen in zahlreichen individuellen und intersubjektiven Blickfeldern.

Ein Teil unserer Blickfelder könnte tiefgehend deformiert sein oder auch bis zur Unkenntlichkeit ’verspiegelt’ - insbesondere die elektronischen ’Blickfelder’ erzeugen ’Scheinwelten’, die, wie ’Schattenbilder auf einer Höhlenwand’ (10), weit von den oben, ausserhalb der Höhle, gelegenen Realitäten entfernt sind.

Rasend nähern wir uns einer (auch in einem technologisch-materiellen Sinn) völlig ’virtualisierten’ Welt, in der fast alles digitalisierbar wird - und mehr und mehr Blickfelder nur noch reine ’Projektionen’ und reine ’Simulationen’ sind.

Damit wird die alltägliche Unterscheidung von ’Sein und Schein’ in unseren mannigfaltigen Blickfeldern immer schwieriger. Hier, scheinbar vor diesem Blickfeld, gegenüber diesem ’Punkt’ sitzend, in meinem transzendentalen ’Bewusstseinsstrom’, muss ich zugestehen, dass ich vieles nicht sehr sicher weiss - z.B. über die Geschichte und damit auch über meine eigene Lebensgeschichte und damit über meine eigenen vielfältigen ’Blickfelddeformationen’.

10.) Vgl.: Platon, Politeia VII.
Vgl.: Heidegger, Martin, Platons Lehre von der Wahrheit, z. B. in: Wegmarken, Frankfurt 1965, Klostermann, S.


Vor allem angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen, politisch-geschichtlichen und weltpolitischen Situation ist es für mich schwierig, zu abgesicherten, gut begründeten Urteilen und Strategien zu kommen.

Es ist noch relativ einfach, wenn auch mit erheblichem reflektiven Aufwand verbunden: die ‚richtigen Fragen’ zu stellen und zu einer einigermassen kohärenten Diagnose zu kommen: auf einer philosophisch-kritischen, wissenschaftlichen Ebene auch konstruktive politische ’Antworten’ anzubieten - äusserst schwierig jedoch ist es, wenn nicht im Augenblick unmöglich: praktikable ’Lösungen’, ’Patentrezepte’ oder ’einfache Heilmittel’ vorzuschlagen.

Wir wissen es nicht! „Was sollen wir tun?“ (11) Wie können wir die aktuelle Zivilisationskrise überleben? Wie können wir mehr ’Freiheit verwirklichen’?

11.) Vgl.: Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft

Vieles können wir durchaus wissen, zumindest gibt es vieles, dass mit einer grossen Wahrscheinlichkeit behaftet ist. Für andere unserer Wissensmomente sprechen nur geringere Wahrscheinlichkeiten und wieder andere, wie z.B. die eben gestellten Fragen, können wir nur hypothetisch umkreisen.

Wir können relative, wahrscheinliche 'Wahrheiten' erreichen und
müssen dies auch, denn ohne ’relative Wahrheiten’ wäre im Grunde nicht ein einziger Lebensschritt möglich. Wir können versuchen, die ’Absolutheit’ in einzelnen konkreten Seienden aufzuweisen: wie, in welchem Masse, bis zu welchem Grad, in welchem Sinn, in welcher Bedeutung, in welchen Eigendynamiken, Selbstbezügen und Vermittlungen existieren sie?

Ein moderner dialektischer Ansatz, der nun doch wieder, wenn auch nicht das ’Absolute’, so doch eine ’Absolutheit’ in den konkreten Seienden anstrebt, steht, meines Erachtens, nicht im geringsten in einem Gegensatz zur transzendental-phänomenologischen Vorgehensweise in der Fährte von Edmund Husserl.

Ich muss mich alltäglich vielmals auf 'relative Wahrheiten' stützen, um überhaupt überleben zu können. Die Ampelanlage muss 'wahrhaft' (technologisch einwandfrei) funktionieren und ich, wie die anderen Verkehrsteilnehmer müssen die Zeichen 'wahrhaft' (realistisch) erkennen, interpretieren und reagieren.

Die dialektische Orientierung lässt sich durch die phänomenologische Methodik komplettieren und besser abgesichert begründen. Beide versuchen, die Wirklichkeiten in unserer Welt zweidimensional, sowohl in ihren bewusstseins- mässigen ’Vermittlungen’, als auch in ihren 'Selbstgegebenheiten,' in ihren ’Unmittelbarkeiten’, zu erschliessen.



Viele Aspekte einer methodisch fruchtbar gemachten Fremderfahrung und einer intersubjektiven Horizontpotenzierung sind in ihrem Kern so alt, wie die Philosophie selbst. Es ist für alle Philosophie elementar, in intersubjektiven Sphären zu agieren und sicher ebenso in den mythisch-religiösen geistigen Vorformen und rudimentär finden sie sich möglicherweise bereits in den anthropogenetischen Anfängen - überall wo sehende und lernende Wesen in Gruppen gemeinsam ihre Horizonte abgleichen. Im Kern ist das Konzept uralt: ’Intersubjektivität’ als Schlüssel zur ’Objektivität’ - zur 'Wirklichkeit'.

Heute komplettieren vielfältige ’mythologische Angriffe auf die Vernunft’ die globalen Tendenzen einer ’Rereligiosifizierung’ (12).

12.) Vgl.: Huntington, Samuel P., The Clash of Civilizations, Simon & Schust. New York 1998


In der ganzen Bandbreite des gesellschaftlichen Lebens wird versucht, die scheinbar selbst gewählten ’subjektiven’ Wirklichkeitsverhältnisse zu artikulieren und zur Geltung zu bringen: in unterschiedlichsten Diskursformen: mit Argumenten, Reden, Texten und zunehmend mit der ’Bombe’.

Dabei wird der Streit nicht nur in bilateraler Form: von links gegen rechts, Okzident gegen Orient, von unten gegen oben geführt - oft verlaufen ideelle Frontlinien quer durch unterschiedlichste Fraktionen.


Die gegenwärtigen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen, politisch-kulturellen, ökonomischen und ökologischen Diskussionen weisen häufig ein gemeinsames Merkmal auf: sie Kreisen immer wieder um die Frage, ob und wie überhaupt ’objektive’ Beschreibungen möglich sind.

Existieren nur subjektive Einzelperspektiven oder subjektive ’sinnstiftende Leistungen’ und verifizierbare vordergründige Tatsachenbeschreibungen oder lassen sich auch im politisch-geschichtlichen, sozialen, kulturellen, ästhetischen und geisteswissen-schaftlichen Raum ’intersubjektive’ bzw. ’objektive’ (also konsequent wissenschaftlich begründete) Hintergründe ausweisen?


Der ’Positivismusstreit’ (13) wird und kann niemals beendet werden: der Streit darüber, ob und wie verifizierbare ’Allgemeinheiten’, die auf sozialgeschichtliche oder gesamtgesellschaftliche Tendenzen abzielen, möglich sind.

Existiert ein ’positives Allgemeines’ oder nur ein ’negatives Allgemeines’ oder nur ein ’subjektives Allgemeines’? Führt jeder Konstruktionsversuch einer ’objektiven Allgemeinheit’ genuin zu diktatorischer und antiindividualistischer Erstarrung ?


Angriffe auf die Existenzfähigkeit einer kohärenten Vernunft finden sich in vielen Ansätzen. Der Verzicht auf die Kohärenzfähigkeit der Vernunft kulminiert in der These vom ’Ende der Geschichte’ in einer rücksichtslosen Anerkennung des Bestehenden.

Nicht selten wird der ’Wille zur Macht’ als Prinzip verabsolutiert, das in einer ’ewigen Wiederkunft des Gleichen’ als unhintergehbares Kontinuum der Geschichte - als absolutes Realitätsprinzip - erscheint, vor dem diejenigen, welche noch immer das aufklärerische Projekt der Moderne verfolgen, selbstgefällig die Augen verschliessen.

13.) Vgl.: Adorno, Theodor, Albert, Hans, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Frankfurt 1969, Suhrk.

In poststrukturalistischen und differenzphilosophischen Ansätzen und ihren Derivaten wird oft Nietzsches ’Wille zur Macht’ so intensiv zur Geltung gebracht, dass die ursprünglich eigene aufklärerische Intention in einen ’postmodernen Katzenjammer’ (14) umschlägt: in abschlusshafte ’Resignation’ hinsichtlich der Realisierbarkeit des aufklärerischen Projektes.

So wird die kritisch intendierte Analyse des Zusammenhanges von Wissen und Macht, die viele essentielle und interessante Aspekte hervorbrachte,
so weit getrieben, dass keine kohärente 'kritische Theorie der Macht' mehr möglich ist.

Die kritisch-reflektiven Versuche im Rahmen der ’Repressionshypothese’ über autoritäre Sozialisationsmomente aufzuklären, werden als immanenter Bestandteil des alle Ebenen umfassenden strukturellen Machtgefüges entlarvt. (15)

Werden all die anti-repressiven kritischen Theorien, welche ihr eigenes intellektuelles Leben entscheidend begleitet und mitkonstituiert hatten, nicht mehr konstruktiv ’aufgehoben’ und weiterentwickelt, sondern auf theoretischer Ebene ad acta gelegt? In einem modernisierten Nietzscheanismus? (16)


14.) Vgl.: Latour, Bruno,
15.) Vgl.: Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen
16.) Vgl.: Deleuze, Gilles, Über Foucault, Paris 1985.
Vgl.: Foucault, Michel, Von der Subversion des
Wissens, insbes. : S. 84 ff

Weshalb wird gerade Heideggers kritische Nietzsche-Rezeption ausgeblendet und damit gerade auf diejenigen Elemente bei Heidegger verzichtet, welche die entfremdungskritischen Ansätze der ’Dialektik der Aufklärung’ inspirativ und konstruktiv komplettieren konnten? (17)

17.) Vgl.: Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen

Derartiges entzieht den emanzipatorischen Bewegungen einen grossen Teil ihres kritisch-theoretischen und begrifflich-kategoriellen Bodens. Die ’Waffe der Kritik’ wird als stumpfgewordene Waffe entlarvt, welche die Massen nicht mehr in einem emanzipatorischen Sinne erreichen kann, sondern real selbst, strukturell, dasjenige Repressionssystem unterstützt und reproduziert, welches sie abschaffen will.

Der Verzicht auf die ’Repressionshypothese’ arbeitet gerade denjenigen heute im öffentlichen Diskurs vorherrschenden ’Kommunikatoren’ entgegen, die in reduktiver und primitiver Extrapolation aus den realgeschichtlichen Entwicklungen in den untergegangenen Ostblockstaaten glauben, nun alle Versuche der Konstruktion einer kohärenten kritischen Vernunft als objektivistische und damit antiindividualistische Einleitung zur Diktatur denunzieren zu müssen.


Wenn es keine kohärente oder ’intersubjektive’ Vernunft geben kann, dann gibt es auch keine kohärente oder ’intersubjektive’ Kritik der bestehenden Verhältnisse und es bleibt nur die völlige Resignation oder die rücksichtslose Anerkenntnis der Verhältnisse, das ’Sicheinrichten’ und bestenfalls der Versuch, hier und da kleine Verbesserungen anzuregen.

Das Folgende ist ein Versuch im Horizont unseres präsumtiv skizzierten ’intersubjektiven Präsenzfeldes’, angesichts der aktuellen Zivilixstionskrise die Möglichkeiten einer 'Realistischen Dialektik und das Problem einer Verwirklichung der Philosophie’ in einigen ’aus der Sache heraus’ möglicherweise ’einleuchtenden’ Perspektiven zu diskutieren:

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Die Stammeslinien von Menschen und Zwergschimpansen (’Bonobos’, unseren nächsten noch lebenden Verwandten) haben sich vor etwa fünf Millionen Jahren getrennt. Dies folgt aus radiometrischen Zeitbestimmungen und genetischen Analysen und ist damit trotz des extrem langen Zeitraumes eine der wenigen relativ gut abgesicherten ’Kenntnisse’ über die Anthropogenese.

Viele andere unserer ’Theorien’ über die frühe Evolution des Menschen beruhen nicht auf hinreichenden ’Anschauungsstrukturen’ oder ’Betrachtungsstrategien’, sie sind oftmals - nicht durch ’systematisierte oder methodo- disierte Empirien’, nur durch kontingente, singuläre Fundstücke - im Grunde minimal abgesicherte und damit logisch unzulässige Extrapolationen, deren höchst spekulativer Charakter in einer selbstkritischen und kritischen Betrachtungsweise essentiell zu berücksichtigen wäre: eine deshalb gebotene erkenntniskritische tendenzielle ’Urteilszurückhaltung’ finden wir leider nur selten in den vielfältigen Theoriebildungen über die sogenannten ’Anfänge’ und ’Ursprünge’ des Menschen.

Üblicherweise haben wir mit einer Verringerung des betrachteten Zeitraumes zunehmend mehr überliefertes ’Material’; insbesondere mit der Zahl- und Schriftentwicklung verbesserte sich plausiblermassen unsere ’Quellenlage’ erheblich.


Deshalb sind, nach meiner Auffassung, auch alle Studien und Erkenntnisse über gegenwärtige „indigene“ oder „archaische“ Gesellschaften mit einer gesteigerten Vorsicht zu behandeln, denn diese versuchen, in einer letztlich immer okzidental bleibenden ’perspektivischen Orientierung’ gemeinsame Strukturprinzipien zu erkennen, um damit signifikante Strukturmuster in archaischen Gesellschaften auszuweisen, die auch für unsere eigene Archaik und Genesis aussagekräftig sein sollen.


Es ist kaum anzunehmen, dass sich die heute lebenden „Naturvölker“ nicht auch vielfach weit und weiter entwickelt haben: in Zeiträumen von Tausenden, Zehntausenden oder Hunderttausenden von Jahren.

Möglicherweise könnte es aber auch bei ihnen neben positiven ’Entwick- lungssprüngen’ ab und an zu ’Rücksprüngen’, sprungartigen ’Rückentwicklungen’, gekommen sein, welches wir nicht hoffen, aber auch nicht ausschliessen können. Die europäische Geschichte ist bekanntermassen neben mannig- faltigen, vieldiskutierten ’Fortschritten’ voller tiefer ’Rückschritte’, ’Regressionen’ und ’Kontra-Evolutionen’, voller massiver ’Rückentwicklungsmotive’.


Auch wenn wir die enormen Produktivkraftentwicklungen durch mannigfaltige technische und seltener auch partiell humane Innovationen des sogenannten Mittelalters nicht übersehen, verbleiben doch zahlreiche kulturelle und politische ’Stillstands- und Rückentwickelungsmomente’ in unserem Blickfeld. Manche Dunkel-heiten sind allzu evident: z.B. ’Heilige Kriegszüge’, ’inquisitorische Gerichtsbarkeiten’ oder die unmenschlichen ’Produktionsverhältnisse im System der Leibeigenschaft’.

Viele zivilisatorische Entwicklungsperspektiven, die in der klassischen griechischen Epoche anfänglich vorformuliert wurden, ruhten scheinbar in einem langen, dunklen Tiefschlaf, der weit mehr als tausend Jahre angehalten hatte.


An einige inspirative Entwicklungsaspekte einer in der Antike punktuell präfigurierten Philosophischen Zivilisation beginnen wir erst heute, nach 2300 Jahren, zaghaft anzuknüpfen.

Die ’Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’ (der 1. Weltkrieg) und der sich anschliessende faschistische ’Rückfall in Barbarei’ waren massive zivilisatorische Rückschläge oder Rückentwicklungen, deren ’Wahnsinnscharakter’ nach nur wenigen Jahren, intersubjektiv, für alle, überdeutlich wurde.

Mitbedingt waren diese von Menschenhand ausgelösten Katastrophen durch die extrem akzelerierte industrielle Entwicklung der ’produktiven Kräfte’ im 19. und 20. Jahrhundert. Technologische Fortschritte können auch zivilisatorische Rückschritte mitbedingen.


Heute scheinen viele Menschen ’antiquiert’ zu sein, wie Kinder oder Neandertaler, die mit Maschinengewehren, Raketen und der ’Bombe’ hantieren: gegenüber ihren ’hochelaborierten’ industriellen und technischen Hervorbringungen geistig, zivilisatorisch und politisch zurückgebliebene,

„die wie verstörte Saurier zwischen unseren Geräten herumlungern.“ (18)

(Das Bild kann durch Anklicken vergrössert werden.)

Hegel kritisierte die fehlende Selbstreflektion der gesellschaftlichen und geschichtlichen Vermittlungssphären im kantischen ’Konstrukt’ eines ’sinnstiftenden Subjekts’:

Zuerst müsste die ’Bildungsgeschichte’ des wirklichen Ichs: die Geschichte seiner Bewusstseinserfahrungen auf allen relevanten Ebenen seiner Genesis intensiv reflektiert werden, um damit eine geistige ’intersubjektiv-selbstbewusste’ wissen-schaftliche Ebene anzustreben, in der eine reflektierte Annäherung an das wirkliche Selbst und seine mannigfaltigen in Wirklichkeit nur scheinbar ihm gegenüberstehende Erkenntnisobjekte möglich würde. (19)


18.) Vgl.: Anders, Günther, Der antiquierte Mensch,
19.) Vgl.: Hegel, G.W.F., Die Phänomenologie des Geistes

In dieser kritisch-dialektischen ‚Fährte’, aber mit einer Negation des allumfassenden Identitätscharakters in der hegelschen Dialektik, relativiert Adorno die Relevanz des ’sinnstiftend erkennenden Subjektes’.

Dem kantischen und neukantischen ’begrifflichen Konstrukt’ eines primär ’sinnstiftenden Subjekts’ hält er die auf allen Ebenen vorrangige objektive ’Dynamik der Geschichte’, den ’historischen Zug’ entgegen: eine geschichtlich entwickelte, über die subjektiven Bewusstseine vermittelte, supraordinäre Objektivität: ein die ’Sinnstiftungen’ vorgängig organi-sierendes totalitäres Identitäts-system, ein 'negatives Allgemeines' das nicht im Sinne des hegelschen ’objektiven und absoluten Weltgeistes’ die Vernunft in der Geschichte realisiert, sondern vielmehr ’bannartig’ alles auf das eine paranoide ’Telos einer totalisierten Selbsterhaltung’ konzentriert und so eine ’Verwirklichung der Freiheit’ verhindert. (20)

20.) Vgl.: Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Suhrk. S. 314 ff

Die Subjekte und seine angeblichen ’sinnstiftenden Leistungen’ sind einer totalitären, identischen ’Herrschaftsrationalität’ unterworfen, einem universalen Vernunftsystem, das seinen genuin auf ’Autonomie und subjektive Selbstbestimmung’ zielenden Selbstanspruch desavouiert und dann den Subjekten als fremde, gegenüberstehende, quasi naturgeschichtliche Macht erscheint, der sie sich unterzuordnen haben.

Ein erkennendes Subjekt hält sich immer schon in einer vorgängig identisch konstitu-ierten Welt auf, in einer durch die subjektiven Bewusstseine vermittelten historischen ’Objektivität’, deren Vorrang als ‚anwachsende Macht der Totale’ das Subjekt zu einem ohnmächtig Unterworfenen degradiert. Am Anfang der ’Negativen Dialektik’ paraphrasiert Adorno die nachhegelische und marxsche Figur einer ’Verwirklichung der Philosophie’.

Der aufklärerischen Prätention, Freiheit zu verwirklichen, begegnet er mit dem Begriff einer objektiven, ’verwirklichten Unfreiheit’, einer ’negativen Allgemeinheit’, die übermächtig die Subjekte überragt und bisher mitverursachte, dass das ’Projekt der Moderne’ einer philosophisch orientierten ’Verwirklichung der Freiheit’ nicht gelang:

„Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ (21)


Wenn eine Gesellschaft nicht ’reziprozitär’ auf veränderte Wirklichkeitsbedingungen reagiert oder gar ’zeitgemässe’ gesellschaftlich-politische Entwicklungen invasiv zurückzudrängen versucht, dann muss sie meist nicht lange warten - denn zumindest einige auf objektive Prozesse abzielende ’Wahrheiten’ müssen irgendwann an den Tag kommen und manchmal erweisen sich diese dann, für alle sichtbar, nicht mehr nur als reine hyperkritische ‚Gedankenarchitekturen’, sondern als realistische Deskriptionen äusserst wirkungsmächtiger, oft leider destruktiver ’materieller Realitäten’.

Ohne die Tragik des von Stalin initiierten Terrors herabzumildern, überdauert die spekulative Frage, ob die Invasion von 1941 und später die invasive Bedrohung im kalten Krieg in der Sowjetunion nicht massiv zu ’Reduktionen vieler möglicher positiver zivilisatorischer Entwicklungspotentiale’ geführt haben könnte? Möglicherweise hätte sich die ’Tauwetterphase’ der ’nachstalinistischen Ära’ ’humaner’ und über 1956 hinaus: weiter und intensiver entwickelt, möglicherweise wäre es weniger zu ’neostalinistischen Wiederverhärtungen’ gekommen und weniger zu:

„industrialistischen Entartung(en) des Sozialismusbegriffes“, (22)

21.) Vgl.: Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, S. 15

die in der finalen Einleitung der letzten Selbstdestruktionsphase 1968 kulminierten.

Eine moderne dialektische Kritik muss zwar neben anderen Elementen aus der ’Kritischen Theorie’ die umfassenden selbstkritischen und selbstreflektiven Untersuchungen aus Adornos negativ-dialektischer Kritik aufnehmen - aber nicht ohne zahlreiche Verabsolutierungen und unilaterale Überzeichnungen zu kritisieren und zu überwinden. Die verabsolutierende Überzeichnung des Identitätsbegriffes und der korrespondierenden ’Nichtidentität’ und die negativ-theologischen, messianistischen Rudimente in Adornos Balanceakt zwischen Erkenntnistheorie, Gesellschaftstheorie, Geschichtsphilosophie und Anthropo- logie wird dabei einer ausführlichen Kritik unterzogen.

Die konstruktiveren und in der Darstellung konkreteren Analysen in Herbert Marcuses 'negativ-dialektischer' Kritik sind für eine moderne realistisch-dialektische Synthese leichter integrierbar. Der bei Marcuse konsequent durchgehaltene und verteidigte ’attributive Wahrheitsbegriff’ kommt ihr dabei entgegen:


22.) Prucha, Milan, „Prager Frühling“ und Philosophie, in: Prager Frühling und Reformpolitik heute, hg. V. T. Miller, München 1989, S. 65

„... Der Kampf um Wahrheit ist ein Kampf gegen Zerstörung, für die 'Rettung' des Seins (ein Bemühen, das selbst zerstörerisch scheint, wenn es die bestehende Wirklichkeit als ’unwahr’ angreift‚ ...). Sofern der Kampf um Wahrheit die Wirklichkeit vor Zerstörung 'bewahrt', verpflichtet und engagiert die Wahrheit die menschliche Existenz.“ (23)

Die Wahrheit „ist der wesentliche menschliche Entwurf. Wenn der Mensch gelernt hat, zu sehen und zu wissen, was wirklich ist, wird er im Einklang mit der Wahrheit handeln. Erkenntnistheorie ist an sich Ethik, und Ethik ist Erkenntnistheorie.“ (24)


’Produktive Kräfte’ sind neben technisch-wissenschaftlichen Entwicklungen auch die philosophisch-politischen Orientierungsmuster in einer Zeit: wie adäquat ist eine Gesellschaft über ihre eigenen Wirklichkeitsbezüge orientiert, gelingt es ihr, sich „angesichts eines Konzentrates von Sinn“ zu legitimieren, das die Philosophie aus „allen gesellschaftlichen Gestalten und Epochen herauszudestillieren wusste“. (25)

23.) Marcuse, Herbert, Der eindimensionale Mensch, Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Suhrk., S. 140/141
24.) Ebd. S. 141
25.) Prucha, Milan, „Prager Frühling“ und Philosophie, a.a.O. S. 65

Gelingt es in einer zureichenden gesellschaftlichen Breite zu einem kritischen intersubjektiven’ ’Selbstbewusstsein’ über die realen Widersprüche und Wirklichkeiten der gegenwärtigen Zeit zu kommen oder gelingt dies weniger - dann werden in unserer mehr und mehr beschleunigten Welt (26) meist die ’Rückschläge’ früher überdeutlich, für alle sichtbar, als man es sich überhaupt vorstellen konnte.

Die Philosophie hat:
„theoretisch das Verhältnis zur Wirklichkeit anzusprechen, das sich in der ganzen Breite des gesellschaftlichen Lebens bejaht“. (27)

Eine kritisch reflektierte geistige Orientierung der Zivilisation ist zunehmend von kaum zu überschätzender Bedeutung, nicht nur für die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation - auch weil von ihr abhängt, ob die rapide zunehmenden ’produktiven Kräfte’ produktiv oder autodestruktiv zur Wirkung kommen.

26.) Vgl.: Baudrillard, Jean, Der symbolische Tausch und der Tod, Paris 1982, Insb. S. 223 ff
27.) Prucha, Milan, „Prager Frühling“ und Philosophie, a.a.O. S. 65

Die Geschichte war in gewissen Grenzen offen - und sie ist es noch immer: viele Einzeltragödien der „permanente[n] Katastrophe“ (28) hätten vermieden werden können oder müssen; und den kaum zu überschätzenden zahlreichen aktuellen Gefahrenpotentialen stehen technische, zivilisatorische und politische Entwicklungsmöglichkeiten und Potenzen gegenüber, die immer schneller wachsen und alles bisherige bei weitem in den Schatten stellen und den ’Horizont unserer Möglichkeiten’ immer schneller verbreitern.


Scheinbar gab es in der Geschichte im Ganzen eine stetige Expansion der ’Produktivkräfte’; doch viele gesellschaftliche und politische ’produktive Kräfte’ erlitten häufig massive ’Rückschläge’: nicht selten wurde die zivilisatorische und auch die technische Entwicklung durch Kriege, Epidemien, Machtkämpfe und andere ’Heimsuchungen’ (29) um Jahre, Jahrzehnte oder vielleicht auch um Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückgeworfen.

Im Grunde sind selbst die punktuellen technischen Einzelfortschritte ebenfalls nicht so leicht datierbar, wie es scheint. Wenn wir berücksichtigen, dass eine technische Entwicklung, wie z.B. die Erfindung des ’Otto-Motors’, eine vielfältige Synthese ist, eine ’Integration’ aus Hunderten vorgängiger Erfindungen und somit eine nicht nur punktuelle fortgeschrittene Endproduktion - mit einer umfangreichen und lange vorlaufenden Entwicklungs- geschichte.

28.) Adorno, Theodor W., GS 6, 314.
29.) Vgl.: Sloterdijk, Peter, Sphären.: Blasen. Globen. Schäume. Suhrk., Frankf. a. M. 2004, insbes.: Bd. 3: Schäume, 8 Das Thanatotop - Die Provinz des Göttlichen, S. 441 ff


Die an der Basis der neuzeitlichen Technik liegende empirisch fundierte ’Quantifikation der Qualitäten’ ist eine Anknüpfung an ’klassische Strategien’, die bereits im Zeitalter von Platon und Aristoteles in den ’poetischen und praktischen Künsten und Wissen- schaften’ angewandt wurden: die Behandlung der Dinge aufgrund einer zugleich universalen und partikularen ’Einsicht in ihre Ursachen und Prinzipien’.

Eine frühzeitigere Anknüpfung an innovative antike Modelle hätte vielleicht die reale geschichtliche ’Blutspur der Menschheit’ abgemildert. Dies ist spekulativ: Entwicklungsrückschritte sind nicht quantifizierbar; aber es ist plausibel, dass sie häufig vorgekommen sind und oft epochale Auswirkungen hatten.

Nicht nur in Europa zerbrachen Hochkulturen meist an ihrer Unfähigkeit zur ’Rezeptivität’ und ’Reziprozität’ gegenüber den umgebenden Wirklichkeits- strukturen: an einer übermässig gewordenen innerlichen und äusserlichen ignorativen ’Starre’, an festgefahrenen Machtstrukturen und verkrusteter kultureller und religiöser Dogmatik.

Oft konnten sie sich neuen ’reinvasiven’ Entwicklungen nicht mehr hinreichend anpassen. Häufig waren derartige Entwicklungen nur die notgedrungenen Rückschläge früherer eigener invasiver Okkupationen.

Immer öfter müssen wir leider erkennen, dass Gesellschaften offenbar durch unbedachte Ok- kupationen nicht nur fremder Völker, auch durch nicht-rezeptive und nicht-reziprozitäre ’Herausforderungen’ natürlicher Prozesse massive ’rückschlagende Invasionen’ auslösten.

Bis heute haben die meisten Städte der Welt (oder auch alle) das ’politisch-ökologische’ Grundproblem nicht gelöst: auf gerechte, gesunde und für alle Seiten ’vernünftige’ Weise die notwendigen Energie- und Lebensmittel in die Stadt hineinzubekommen und gleichzeitig die Emissionen der Stadt human, effektiv und umweltverträglich zu entsorgen.


Noch Georg Hegel, der mehr oder weniger einsame Verächter alles Nichtidentischen in den möglicherweise doch ‚naturschönen’ Besonderheiten, musste 1831 an der Wirkung von kleinsten geistlosen Lebewesen, an Cholera-Bakterien (Vibrio cholerae), zu Grunde gehen, welches insofern besonders tragisch ist, wenn wir die ökologische Dimension mitbedenken, dass derartige Epidemien immer auch durch menschliches Verhalten mitverursacht waren. Hätte es auch nur geringste Ansätze einer ’Verwirklichung seiner Philosophie’ gegeben, so wär’ er vielleicht erst viel später an einer vermeidbaren oder auch unvermeidbaren Todesursache zu Grunde gegangen und zumindest hätte er sich dann noch selbst mit den relevanten Argumenten der sogenannten linken nachhegelschen Kritik auseinandersetzen können, dürfen oder vielmehr müssen.

Hätte ’in seiner Zeit’ der ’Staat’ nur in minimalster Konsequenz im ’Raume des leicht Absehbaren’ vernünftig für das hygienische Wohl seiner Bürger gesorgt, dann hätten viele überlebt. Durch technisch damals durchaus mögliche Bewässerungs-, Entwässerungs- und Entsorgungssysteme hätte die Berliner Epidemie von 1831 (wie die meisten Epidemien der Menschheitsgeschichte) vermieden werden können oder müssen.



Heute sieht es global so aus, als bekämen wir jeden Tag neue Nachrichten über eventuell drohende Rückschläge einer notdürftig, improvisatorisch gefesselten Natur. Fast alltäglich entdecken wir neue Prozesse, welche die bisher bekannten ökologischen Probleme als oberste ’Spitze eines riesigen Eisberges’ erscheinen lassen.

Zum Beispiel: Anzeichen für mögliche biologische Folgen der atmosphärischen Kohlendioxidanreicherung oder die in ihrem immensen Ausmass erst 2005 entdeckte pflanzliche Methanproduktion, die bei dem durch den höheren Kohlendioxidgehalt und die Erderwärmung gesteigerten Pflanzenwachstum möglicherweise zunähme und ihrerseits den Treibhauseffekt gesteigert verstärkte. Haben wir hier einen rückgekoppelten ökologischen Prozess angeschoben, der nun selbstgesteuert, allein, die von uns eingeleitete Beschleunigung steigert: einen circulus vitiosus ?



Wir verhalten uns nicht ’rezeptiv’ oder ’reziprozitär’ gegenüber unserer Umwelt, sondern ’herausfordernd’, imperial: invasiv und okkupatorisch gegenüber unzähligen natürlichen Prozessen.

Und die sich steigernden grossmächtigen Versuche, die weltpolitischen Probleme zunehmend wieder imperialistisch, invasorisch und okkupativ, zu lösen, mitbedingen eine weltweit zunehmende Proliferation der Bombe und geeigneter Trägersysteme.

Bekanntermassen wollen die einen, welche die Bombe besitzen, aus angeblicher Sorge um ihre ’städtischen Energiezulieferungen’ (aber in Wirklichkeit wohl mehr aus Sorge um ihre Hegemonie und ihr Überleben), nicht, dass die anderen, welche die Bombe noch nicht besitzen, diese bekommen und üben zu diesem Zweck: Druck-, Zwangs- und Bedrohungsmassnahmen aus, während die potentiell Okkupierten nach
der Bombe und geeigneten Trägersystemen streben, weil sie (nicht unberechtigt) glauben, damit einer imperialen Subalternierung oder auch real möglichen Okkupationen erfolgreich entgehen könnten.


Explosion der Bombe.



„Wie ist es auch nur denkbar, daß der circulus vitiosus durchbrochen wird ?" (30)

Wie kann heute ein durch den ’Clash of Civilizations’ (31) ('Zusammenstoss der Kulturkreise' wäre die richtige Übersetzung gewesen, statt 'Kampf der Kulturen') mitbedingter atomarer ’Abschlag’ vermieden werden?



Sicherlich vernachlässigt der sehr konservativ denkende Samuel Huntington politisch-ökonomische und ökologische und viele andere Widerspruchsebenen - dennoch beschreibt er zahlreiche reale weltpolitische Tendenzen. Die weltweite ’Rereligiosifizierung’ und der permanente ’Angriff des Mythos auf die Vernunft’ konterkarieren die aufklärerischen Prätentionen nach mehr ’Rezeptivität’, ’Reziprozität’ und ’Assoziativität’.

Viele vergangene Hochkulturen zerbrachen irgendwann in nur wenigen Jahrzehnten: aufgrund ihrer selbstverursachten Widersprüche, welches, in geschichtlichen Dimensionen betrachtet, sehr kurzzeitige Perioden waren; gemessen an den oft Jahrhunderte dauernden Entwicklungen, die zum Aufstieg dieser Kulturmächte geführt hatten.

Über ’Rücksprünge’ oder ’Entwicklungsrückschritte’ in „archaischen“ Gesellschaften gibt es kaum absicherbare Hinweise.

30.) Marcuse, Herbert, Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 261 15.)
31.) Vgl.: Huntington, Samuel P., The Clash of Civilizations, a.a.O

Die Studien über Strukturmerkmale „archaischer“ Gesellschaften von Emile Durkheim, Ernst Cassirer und Claude Lévi-Strauss sind deshalb so interessant, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen kommunizierten „Theorien“ über unsere Genesis grossenteils gebotene erkenntniskritische Urteilszurückhaltungen durchaus aufweisen. Dennoch sollten die im höchsten Masse diskussionswürdigen philosophischen Konsequenzen aus ihren Studien nur in einer manifest fragenden und selbstkritischen Perspektive äusserst behutsam und hypothetisch gezogen werden.

Aus heutiger Perspektive werden meist die Anfänge der Anthropogenese mit einer Expansion der räumlichen Bewegungsfreiheit assoziiert.

Wir vermuten, dass Klimaveränderungen in Süd-Ost-Afrika unsere ’Vorgänger’ dazu ’herausforderten’: von den Bäumen in die Savannen aufzubrechen. 3,4 bis 3,8 Millionen Jahre alte Fussspuren zeigen, dass zumindest einige Hominiden - lange bevor ihr Gehirnvolumen drastisch expandierte - bereits frühzeitig aufrecht gingen und sich damit ihre räumlichen ’Horizonte’ immens erweiterten.

Gefundene Äste, Steine oder Knochen dürften als erste ’Werkzeuge’ gedient haben. Möglicherweise waren mit Steinen angespitzte Äste die ersten zielgerichteten menschlichen ’Herstellungen’.

Die Erfindung der Keule, des bewaffneten Mordes, der sich drehenden Keule, des Rades, der Schrift und die Konsequenzen.



Die ältesten bisher gefundenen Artefakte sind aus verschiedenen, voneinander entfernten Gebieten gezielt herbeigeschaffte und präzise miteinander bearbeitete ’Steinwerkzeuge’ mit einem Alter von 1,9 bis etwa 2,5 Millionen Jahren. Es könnte jedoch noch ältere Artefakte geben, die wir möglicherweise in der Zukunft finden oder auch niemals finden. Deshalb ist auch diese durchaus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit behaftete ’Theorie’ ebenfalls nur als eine hypothetische auszuweisen: dass erst lange nach dem aufrechten Gang eine anfangs minimale Entwicklung der produktiven Kräfte einsetzte.

Die Herstellung von Werkzeugen deutet auf eine Expansion auch der zeitlichen ’Hori-zonte’, auf die Möglichkeit, zielgerichtet zu suchen, zu experimentieren und die erlernten ’Fähigkeiten’ und die hergestellten ’Instrumente’ an andere Menschen und an nachfolgende Generationen weiterzugeben: zu ’lernen’ und zu ’lehren’.  


Dennoch scheint es noch einmal weit mehr als eine Million Jahre gedauert zu haben, bis die nächste entscheidende Etappe in der Entwicklung des Menschen erreicht wurde: die Anfänge der Feuerbeherrschung lagen, so vermuten wir heute, jedoch aufgrund einer sehr unsicheren und beschränkten empirischen Basis, möglicherweise erst vor etwa 750 bis 500 Tausend Jahren.

Viel präziser wissen wir, aufgrund zahlreicher empirischer Indizien, dass dann nochmals eine sehr lange Zeit verging, bis vor etwa 8.000 bis 12.000 Jahren mit der ’neolithischen Revolution’ eine zuerst langsame und erst allmählich steilere exponentielle Entwicklung der ’produktiven Kräfte’ einsetzte.

Erst mit der Entstehung der ’Hochkulturen’ expandierten dann punktuell die räumlichen und zeitlichen Horizonte immens: mit intensivierter ’Kommunikation’, ’Assoziation’, ’Organisation’, ’Feuerbeherrschung’, ’Agrikultur’, ’Bewässerung’, ’Zahl-, Zeichen- und Schriftentwicklung’ und vielen weiteren zivilisatorischen Innovationen.

Räumliche und zeitliche ’Horizonterweiterungen’ verbreitern die Spielräume, in denen sich die Einzeldinge aufeinander beziehen und diese Verbreiterungen führen zu Intensivierungen in den Beziehungen auf die Einzeldinge. Je breiter der Horizont ist, desto schärfer konturiert sich darin eine partikulare Struktur. Die Horizontverbreiterung ist eine ’Befreiung aus der Enge’, sie verringert die Abhängigkeit von dem jeweils Einzelnen, dass nun in einem grösseren Kontext neben anderen Einzelnen erscheint.

Der Überblick über Vieles ermöglicht Differenzierung, Auswahl und Distanzierung von bestimmten Einzelheiten und damit die Möglichkeit einer Öffnung für die anderen: ein ungebundenes und freies Zurückkommen (32) zu den Dingen.

In der kontextuellen Verbreiterung und Distanzierung kann es gegenüber den Einzeldingen zu ’geistigen’ ’Haltungen’ kommen, die sich nicht mehr von den Einzeldingen überwältigen lassen, sondern diese bestaunt, befragt, bezweifelt und bestimmt - und versucht, diese zu verändern.
 



Wie löste sich die Philosophie in einer langen, schrittweisen Progression, die bis heute nicht abgeschlossen ist, aus dem 'Bann des Mythos', um die einzelnen Seienden konkret zu bestimmen - und sie auf dieser Grundlage 'assoziativ' und 'affirmativ' zu verändern?

32.) Vgl.: Henrich, Dieter, Gedanken zur Dankbarkeit, Reclam, S.

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„Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.“ Seit langer Zeit versuche ich, politisch-philosophisch gegen die Selbstzerstörung unserer Zivilisation zu agieren und auch täglich zum Augenblicke sagen zu können: „Verweile doch! du bist so schön!" Nur durch intensive Erfahrung sind Menschen und Realitäten fassbar, zeigte mein Austauschjahr in Kalifornien. Der immense Technikfortschritt und barbarische Politikrückschritt liessen mich (statt Mathematik, Physik, Astrophysik etc.) Philosophie, Politik, Psychologie, Amerikanistik, Kunst studieren. Anders als die Schule liebte ich die damals 'freiere' Universität Berlin. Bis heute bin ich dort leidenschaftlich tätig. Seit 76 befasse ich mich mit Computerprogrammierung, später mit MIDI, Grafikprogrammen, Spracherkennung usw. Kreierte Aufsätze, Vorträge, Musik, Kunst, Videokunst, organisierte Ausstellungen, bin mehr als 30 Jahre gesegelt, liebe Natur und Abenteuer, lebte zeitweise auf dem Lande (ökolog. Landbau) und versuche jetzt, zwei allgemeinverständliche, spannend lesbare politisch-philosophische Bücher zu schreiben: Philosophie ist "ihre Zeit in Gedanken erfaßt".